Sonntag, 28. Dezember 2008

Jahresrückblick 2008

Hier ein Jahresrückblick, der etwas wirklich Symptomatisches herausgearbeitet hat:


Das Jahr, das immer schneller wurde

Von Jan Ross | © DIE ZEIT, 23.12.2008 Nr. 01
Mehr Menschen, mehr Mächte, mehr Möglichkeiten: So viel wie in den vergangenen zwölf Monaten ist selten passiert – ein Versuch, das Jahr 2008 zu verstehen


Das war 2008: Olympia in Peking, Krieg im Kaukasus, Aufstand in Tibet, Weltgipfel in Washington, die Wahl Obamas und der Crash an der Wall Street (von links)



Das Jahr 2008 lässt uns mit einem Schwindelgefühl zurück, mit Hirnsausen, in einem Zustand weltpolitischer Seekrankheit. In den vergangenen zwölf Monaten sind passiert: der Aufstand in Tibet, die Olympischen Spiele der neuen Weltmacht China, der US-Vorwahlkrimi mit globalem Publikum, ein Krieg zwischen Russland und Georgien, die Wahl Obamas, die schwerste internationale Finanzkrise seit den 1930er Jahren, die Terroranschläge von Mumbai als »indisches 9/11«. Kleinere Erschütterungen wie das irische Nein zum EU-Verfassungsvertrag zählt man schon gar nicht mehr mit. Es hat in den vergangenen Jahren massivere, kompaktere historische Augenblicke gegeben als 2008: Der 11. September 2001 oder der Irakkrieg 2003 waren lautere Explosionen im Weltgewölbe. Aber die politisch-emotionale Achterbahnfahrt, das schiere Tempo der Stimmungs- und Schauplatzwechsel zwischen Wall Street und Kaukasus, Crash-Angst und Obamanie war atemberaubend und signalisiert eine neue Geschichtsqualität.

Wahrscheinlich werden wir uns an dieses Trommelfeuer der Geschehnisse gewöhnen müssen. Es war kein Zufall und keine medial erzeugte Illusion. Der Ereignisdruck ist Ausdruck einer Demokratisierung von Weltgeschichte: mehr Menschen, mehr Mächte, mehr Möglichkeiten, sich bemerkbar zu machen, mitzureden, zu stören. Es ist nicht mehr wie früher, wo sich alle Blicke automatisch in eine Richtung wandten, wenn in Washington oder Moskau die Parole ausgegeben wurde: »Jetzt ist Nahostkonflikt!«. Täter, Opfer und Schauplätze haben sich vervielfacht. Wenn die Tibeter mit ihren Kräften am Ende sind, können sofort die Georgier einspringen. Weil eine Finanzkrise begonnen hat, hört nicht etwa der Terrorismus auf, wie die Attentate von Mumbai auf furchtbare Weise klargestellt haben. Die Finanzkrise selbst ist globalisiert und demokratisiert – keine Asien- oder sonstige Regionalkrise wie in den 1990er Jahren, auch keine Exklusivkrise der reichen Amerikaner und Europäer, die China oder Indien in ihrem Aufstieg unberührt lassen würde, sondern eine echte Weltkrise für jedermann.
Die früheren Entwicklungsländer nehmen Platz am Tisch der Macht
Der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat das Phänomen als »globales Erwachen« bezeichnet: Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Menschheit in ihrer ganzen Breite politisch aktiv. Tibet-Freunde, die in San Francisco oder Paris gegen den olympischen Fackellauf protestierten, chinesische Auslandsstudenten im Westen, die umgekehrt für ihre Regierung Partei nahmen und ihren Nationalstolz demonstrierten, schwarze Amerikaner, die mit der Stimme für Barack Obama zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Präsidentenwahl teilgenommen haben – das alles sind Symptome einer universalen Mobilisierung. Selbst im Terrorismus muslimischer Fanatiker steckt eine perverse Form des »globalen Erwachens«, des Kampfes um weltweite Aufmerksamkeit: Würden wir uns denn so viele Gedanken über den Islam machen, wenn es den 11. September 2001 und seine Folgetaten nicht gegeben hätte? Die Attentate von Mumbai haben eben nicht nur Sympathie für die Opfer geweckt, sondern, so verstörend das wirkt, auch erfolgreich das Indienbild verändert: weg vom Wirtschaftswunder und vom Touristenparadies der Werbespots bei CNN, hin zum ungelösten Kaschmirkonflikt und zum Schicksal der muslimischen Minderheit im Land.
Die neue, pluralistische Welt hat 2008 ihr erstes offizielles Forum bekommen, als Embryo einer globalen Ordnung des 21. Jahrhunderts. Die »G20«-Gruppe, die von den Vereinigten Staaten bis Indonesien Industrie- und Schwellenländer zusammenbringt, stellt das Eingeständnis der Reichen und Mächtigen von gestern dar, dass sie die Welt nicht mehr beherrschen können. Ausgerechnet diese bunte, Nord und Süd umfassende Runde, die seit ihrer Gründung 1999 ein Schattendasein geführt hatte, ist zur obersten Instanz in der Debatte über die Finanzkrise geworden, zum Rahmen, in dem Bush, Sarkozy oder Brown auftraten und ihre Rettungsvorschläge präsentierten. Diese Krise kann die alte Weltelite nicht mehr allein bewältigen – und das hat Folgen: Die früheren Entwicklungsländer werden sich ihren frisch erworbenen Platz am Tisch der Großen nicht nehmen lassen, wenn es demnächst um Klima, Handel oder Armutsbekämpfung geht. Wie provisorisch und unfertig auch immer, ist die G20 doch der Vorbote von etwas Neuem, im Unterschied zu den bisweilen zombiehaft weiterlebenden Gremien und Organen aus der Zeit vor 1989, die (wie die Nato) überholt oder (wie die Vereinten Nationen) schwergängig wirken. In einer Ad-hoc-Improvisation, getrieben durch die Angst vor dem großen Crash, hat die kollektive politische Fantasie mit der Entdeckung der G20 einen kleinen schöpferischen Geniestreich getan.

2008 war das Jahr, in dem wir uns an die »multipolare Welt« endgültig gewöhnt haben – die Vielfalt von Machtzentren, die sich seit dem Irakkrieg anstelle der globalen Alleinherrschaft der Vereinigten Staaten herausgebildet hat, die Emanzipation des Südens und Ostens sind selbstverständlich geworden. Mit der Finanzkrise hat die Dominanz der USA nach dem Scheitern von Bushs Weltmachtpolitik einen zweiten Schlag erhalten – jetzt kann von einem amerikanischen Zeitalter wirklich nicht mehr die Rede sein. Zugleich ist aber der Honeymoon der Aufsteigermächte vorbei. Die Karriere des Nicht-Westens war bisher ein Boom-Phänomen: fantastische Zuwachsraten vor allem in Asien. Damit hat es für den Moment ein Ende. Dass die Wirtschaft in China, Indien oder Russland sich von den USA und Europa »abkoppeln« könne, wie schon prophezeit worden war, hat sich als Legende erwiesen. Die Wachstumsprognosen mussten scharf nach unten korrigiert werden. Die russische Staatspropaganda hat die Finanzkrise zunächst als amerikanische Sünde und amerikanisches Problem dargestellt; bald jedoch wurde die Moskauer Börse geschlossen, und die Oligarchen erlitten Milliardeneinbußen, die sie an den Rand des Konkurses brachten. Hinter dem auftrumpfenden Russland des Georgienfeldzugs ist eine höchst fragile Macht sichtbar geworden.

Vom Westen gefürchtete Öl- und Schurkenländer wie Iran und Venezuela haben mit dem Einbruch der Energiepreise ihre Staatseinnahmen schwinden sehen. Die Anschläge von Mumbai haben bloßgelegt, dass die viel gerühmte Atom- und Softwaremacht Indien weiterhin den Sicherheitsapparat eines Drittweltstaats besitzt. Das Emirat Dubai mit seinem Milliarden verpulvernden Märchenluxus muss vom solideren Nachbarn Abu Dhabi gestützt und heraus gekauft werden. Die neuen Mächte stehen nicht etwa stabiler da als die alten, etablierten, westlichen – im Gegenteil. Auf Dauer ist eine Machtverlagerung nach Osten und Süden unvermeidlich, aber eine glatte Karriere der Aufsteiger ist sie nicht.

Ein bei aller bürokratischen Farblosigkeit hochdramatischer Schlüsselsatz des ausklingenden Jahres fiel in einer Rede des chinesischen Präsidenten Hu Jintao vor dem Politbüro der KP Chinas: Ob die Partei den Druck der Krise in eine Motivation verwandeln und aus den Herausforderungen Chancen machen könne, werde über ihre Fähigkeit entscheiden, das Land zu regieren. Dass das chinesische Regime in Angst vor der Unruhe des Volkes lebt, dass es wirtschaftspolitische Leistungen zu seiner Legitimation braucht, ist eine Sache – aber dass der Staats- und Parteichef den gefährlichen Zusammenhang selbst herstellt und öffentlich an der Regierungsfähigkeit der eigenen Partei zweifelt, ist ein Alarmsignal. Man muss es mit dem Triumph der Olympischen Spiele zusammennehmen, um die ganze Spannung zu ermessen, unter der die Weltmacht, die es noch nicht ist, gegenwärtig steht.

In den letzten Jahren war die These Mode geworden, dass moderne Diktaturen wie die chinesische für die Zukunft besser gerüstet sein könnten als die müde gewordenen liberalen Demokratien des Westens. Putins Russland, das im August im Georgienkrieg eine Machtdemonstration abgelegt hat, galt schon als Kandidat für eine neue, gefährliche Systemkonkurrenz, einen »neuen Kalten Krieg«. Jetzt, am Ende des Jahres, nehmen sich die Autokratien, die im Abschwung letztlich doch vor den eigenen Bürgern zittern müssen, weniger eindrucksvoll aus. Statt einen neuen Kalten Krieg vom Zaun zu brechen, versucht die Welt gemeinsames Krisenmanagement. Und die als dekadent abgeschriebene Demokratie hat mit der global bejubelten Wahl Barack Obamas ihren stärksten Vitalitäts- und Attraktivitätsbeweis seit 1989 geliefert: Das ganze Pathos der Freiheit, das die Welt seit Bush schon nicht mehr in den Mund nehmen mochte, klang auf einmal wieder frisch und echt wie am ersten Tag. Das ist, neben dem »globalen Erwachen« und der Etablierung der neuen Mächte, die zweite, gegenläufige Kernerfahrung des Jahres 2008: die Anfälligkeit der Newcomer und die Erneuerungsfähigkeit des westlichen Modells.

Das Jahr 2008 endet unvollendet: Die Wirtschaftskrise, die eines seiner zentralen Ereignisse ist, hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, geschweige denn ihren Abschluss. Die Menschheit geht mit dem unbehaglichen Gefühl einer Gnadenfrist ins nächste Jahr, mit der Ahnung, dass eine Kugel schon abgeschossen wurde, die ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Sicher ist, dass die Krise zum Stresstest für alle Länder und Gesellschaften wird – sie trifft sie jeweils an ihren empfindlichsten, prekärsten Stellen, sie treibt ihre typischen Widersprüche hervor. Für die Vereinigten Staaten bedeutet sie einen potenziellen Bruch in ihrer Liebesgeschichte mit dem Kapitalismus, sie wirft die Frage auf, ob nicht eine Umwertung fällig ist im Verhältnis von Staat und Markt, von Individuum und Gemeinschaft. Was würde es bedeuten, wenn die Amerikaner nicht mehr glauben könnten, dass der Einzelne seines Glückes Schmied ist und jeder die faire Chance zu Aufstieg und Erfolg hat? Für die Europäer ist das Gefahrenszenario das griechische: ein in privilegierte Insider und unversorgte Außenseiter gespaltener Wohlfahrtsstaat, der die an ihn gerichteten Ansprüche nicht mehr erfüllen kann, für Reformen keine Mehrheit findet und sich die Jungen, die Beschäftigungslosen, die Einwanderer zu Feinden macht. In Amerika wie in Europa arbeitet ein mächtiges Unruhepotenzial und Veränderungsbedürfnis, womöglich eine revolutionäre Energie. In den USA wird schon ein erster Antwort- und Lösungsversuch unternommen: »Change« mit Barack Obama als Neubesetzung von Franklin Roosevelt, der in den 1930er Jahren mit dem New Deal den amerikanischen Gesellschaftsvertrag neu schrieb, den Staatseinfluss ausweitete und den Privatinteressen Zügel anlegte. Den europäischen Obama gibt es nicht.
Barack Obama ist der Mann des Jahres 2008. Wie er am Ende des Jahres 2009 dastehen wird, ist vollkommen offen. Aber die historische Möglichkeit, die er verkörpert, lässt sich bezeichnen, und sie reicht über die Wiederherstellung des amerikanischen Ansehens und die Symbolik eines Schwarzen im mächtigsten Amt der Welt weit hinaus. Obama, der Coole und Multikulturelle, steht für so etwas wie die Hoffnung auf ein ziviles Weltgespräch, auf eine Menschheit, die sich globale Tagesordnungen zu setzen vermag, die zusammen Überlebensthemen identifizieren und sich auf manierliche Weise darüber auseinandersetzen kann.

Die vergangenen Jahre, die Jahre von George W. Bush und des »Kriegs gegen den Terror«, sind eine Zeit der Spaltung und Polarisierung gewesen, der dauernd erhöhten politischen und rhetorischen Temperatur – heiße Jahre, deren Inbegriff nicht zufällig der Krieg gewesen ist. Obama verspricht Abkühlung, und er verspricht Gemeinsamkeit – nicht im Sinne aufgehobener Interessengegensätze, das wäre eine absurde Erwartung, sondern als Habitus und Impuls: Die primäre Geste soll nicht mehr die geballte Faust sein, sondern die geöffnete Hand. Es gibt eine globale Sehnsucht nach Kooperation, wie ausgehungert ergreift die Welt die Chance zu Tagungen und Gipfelkonferenzen, über Klima, Finanzmarktregulierung oder Investitionsprogramme, zerstreitet sich dabei und kann doch vom Miteinanderreden nicht lassen. Es hat eine andere Phase begonnen als die Bush-Ära mit ihren starren, harten Gegensätzen von Freund und Feind, Licht und Dunkel, Gut und Böse, eine Zeit gewiss nicht geringerer Gefahr, aber größerer Flexibilität, und in Barack Obama hat sie für den Augenblick ihren smarten Helden gefunden.
Mit derselben Herkunft kann man Terrorist und US-Präsident werden
Der Schriftsteller John Updike hat vor einigen Jahren einen Roman veröffentlicht, der die Geschichte eines zum Terroristen gewordenen jungen Mannes erzählt. Die Hauptfigur ist der Sohn einer Amerikanerin und eines Austauschstudenten aus einem muslimischen Land, der seine Familie bald im Stich gelassen hat und in seine Heimat zurückgekehrt ist. Kommt uns das bekannt vor? 2008 ist das Jahr gewesen, in dem man in dieser Geschichte auf einmal eine andere, die Welt verblüffende erkennen konnte: Die Herkunft von Updikes Ahmad Mulloy deckt sich exakt mit der von Barack Obama. Es ist ein und dieselbe Geschichte, mit der einer in der Dichtung zum Terroristen und in der Wirklichkeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten werden kann. Das ist die abgründige Unsicherheit, mit der man sich vom ablaufenden Jahr abwendet – und die Hoffnung.


Zum Thema
ZEIT ONLINE 52/2008: Krisen, Kriege und ein bisschen Hoffnung

Imre Makovecz - Ungarischer Architekt


Auf einer Reise nach Südost-Mitteleuropa war es möglich, einige Bauwerke des ungarischen Architekten Imre Makovecz zu besichtigen. Obwohl man seine beeindruckenden, einmaligen Kunstwerke dort überall sehen kann, so ist er doch relativ unbekannt. Man musste viele Leute fragen, um den Weg zu ihnen zu finden. Ein Student war denn auch regelrecht beschämt, dass er nichts von diesem Architekten von Weltrang wusste.

Aber nicht nur seine Gebäude sind bedeutsam, sondern auch die Gedanken, die hinter ihnen stehen. Man prüfe sie weniger auf ihre Richtigkeit oder Berechtigung hin, sondern folge mehr ihrer lebendigen Bewegung. Wenn man das tut, dann offenbart sich eine Persönlichkeit von hoher Bedeutung, eine Persönlichkeit, die ganz aus dem Wesen ihres Landes herauswächst, dieses aber zugleich wie ein Leuchtturm überragt und so zu einem Wegweiser für das Land und seine Menschen werden kann, wenn sie denn wahrgenommen wird. Damit hat sie nicht nur Bedeutung für den nationalen Umkreis, sondern auch für den Weltenkreis.

Es folgen nun Auszüge aus dem persönlichen Tagebuch dieser Reise und viele Texte aus dem Band:
Skizze der Waldschule - Mogyorohegy bei Visegrad, erbaut 1983-1987



Eigene Notizbucheinträge:

Bevor des Christus Gottessein
in Menschensphären trat herein,
die alten Kräfte schwanden hin
Naturkraft verlor Geist und Sinn.

Wild, grausam konnt ihr Wesen werden,
Urkräfte schwanden hin auf Erden.
Schamanen-Zauberkraft verschwinde-
Oh Menschenherz, den Christus finde.

Lausche auf der Landschaft Wort
Anders spricht ein jeder Ort
Leise flüsternd spricht er aus,
wie der Mensch erbau sein Haus.

Haus und Landschaft eng verbunden
Neue Einheit ward gefunden.
Nicht Gedankenkraft allein
lass der Wohnung Schöpfer sein.


Erfasse Erdenstoffe plastisch -
Baukunst entsteht - fantastisch

Literatur:
"Bewegte Form - Der Architekt
Imre Makovecz" von Anthony Tischhauser - erschienen im Jahr 2001 im Verlag Urachhaus.

Alle Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch.

„Architektur ist ihrem Ursprung nach nicht nur Architektur: Architektur ist ein Ereignis. ... Der Zugang zum Wesen eines Baues, oder wie auch immer man es nennen will, läuft nicht über das Anhäufen von Wissen ... Das Denken hat einen Inhalt, der immer schon existierte. Daraus kann sich etwas in unserer Welt manifestieren. Die Schwierigkeit des Manifestierens ist, dass es nie zu einer Vollendung kommt, sie kann nur auf den Prozess hinweisen. Die Eigenart der Denkwelt ist der Prozess in der Zeit selbst. Wir leben von der Gnade des Denkens. Das Objekt der Architektur ist das Gegenteil; absolut, eindeutig und stabil...“



„Ich glaube nicht an Architekten, die dem funktionellen Programm während des Entwurfs die Priorität geben und so moderne und intelligente Häuser definieren wollen. Entweder irren sie sich oder sie haben keine Phantasie und wissen nichts von der Architektur. Der echte Architekt geht auf den Bauplatz, um irgendwann in einem unerwarteten Moment das Haus zu entdecken, das er dort bauen wird. Dann ist es seine Aufgabe, diese innere Substanz herauszuarbeiten und sie in Archtitktur umzuwandeln. Anders gesprochen: Architektur ist kein architektonisches Problem – sie ist nur das Resultat....“


(Seite 23)



Samstag, 20. Dezember 2008

Zum Jahreswechsel

Am letzten Tag des Jahrs blick' ich zurück aufs ganze,
Und leuchten seh' ich es gleich einem Gottesglanze.
Es war nicht lauter Licht, nicht lauter reines Glück,
Doch nicht ein Schatten blieb in meinem Sinn zurück.
Die Freuden blühn mir noch, die Leiden sind erblichen,
Und ins Gefühl des Danks ist alles ausgeglichen.
Ich gab mit Lust der Welt das Beste, was ich hatte,
Und freute mich zu sehn, daß sie's mit Dank erstatte.
Nichts Bessres wünsch' ich mir, als daß so hell und klar,
Wie das vergangne mir sei jedes künft'ge Jahr.




Friedrich Rückert,Die Weisheit des Brahmanen


Mariä Sehnsucht

Es ging Maria in den Morgen hinein,
tat die Erde einen lichten Liebesschein,
und über die fröhlichen, grünen Höhn
sah sie den bläulichen Himmel still stehn.
"Ach, hätt ich ein Brautkleid von Himmelsschein,
zwei goldene Flüglein - wie flög ich hinein!"

Es ging Maria in stiller Nacht,
die Erde schlief, der Himmel wacht,
und durchs Herze, wie sie ging und sann und dacht,
zogen die Sterne mit goldener Pracht.
"Ach, hätt ich das Brautkleid von Himmelschein,
und goldene Sterne gewoben drein!"

Es ging Maria im Garten allein,
da sangen so lockend bunt Vögelein,
und Rosen sah sie im Grünen stehn,
viel rote und weiße so wunderschön.
"Ach, hätt ich ein Knäblein, so weiß und rot,
wie wollt ichs lieb haben bis in den Tod!"

Nun ist wohl das Brautkleid gewoben gar,
und goldene Sterne ins dunkele Haar,
und im Arme die Jungfrau das Knäblein hält
hoch über der dunkel umbrausenden Welt,
und vom Kindlein gehet ein Glänzen aus,
und lockt uns nur ewig: nach Haus, nach Haus!

Joseph von Eichendorf, 1788 - 1857

Samstag, 13. Dezember 2008

Ralf Rangnick über den Erzengel Michael




Zum 80.Geburtstag von Peter Lampasiak wurde an der Freien Waldorfschule Hannover Bothfeld eine Festschrift vorgestellt: "Auf dem Weg".

In dieser findet sich eine bemerkenswerter Artikel eines Fußballtrainers (Hoffenheim):



Leseprobe


Michael, der Motivator
von Ralf Rangnick

Wer der Erzengel Michael ist, wusste ich ehrlich gesagt vor meinem ersten Besuch in der Michael-Kirche in Hannover nicht so genau. Ich wusste noch nicht einmal besonders viel über Erzengel, Engel und andere himmlische Wesen. Die Skulptur, die mir beim Verlassen der Kirche Ade sagte, wirkte auf mich wie eine Art Motivationstrainer: Als erstes fiel mir auf, dass drei verschiedenartige Engel dargestellt sind.

Das regte mich zum Nachdenken darüber an, ob wir nicht auch in dreierlei Weise im Leben stehen: Als mutiger Kämpfer im Privat- und Berufsleben, als kreativer Künstler, der im emotionalen Leben Harmonie und Ästhetik sucht sowie als rationaler Denker, der verstehen möchte, wie die Welt zusammenhängt. Was bewirkt nun der dreifache Engel im täglichen Leben - und wie kann uns das - auch als Fußballtrainer - weiterhelfen? Der Kämpferengel ist mutig, stark und hat das richtige Werkzeug, um mit dem Drachen fertig zu werden, der ihm und womöglich auch anderen nach dem Leben trachtet.

....
Der erste Kampf für den Kampf im äußeren Leben findet vielleicht in und mit uns selbst statt. Stärke, Zielstrebigkeit, Arbeit an den Werkzeugen der Selbstdisziplin - hehre Ziele, bei denen der Erzengel uns vielleicht helfen möchte. Der Künstlerengel ist der Schönheit und Ästhetik verpflichtet. Irgendwie soll das, was wir egal auf welchem Gebiet leisten, schön, harmonisch und ästhetisch wirken.

...mehr im dem Buch »Auf dem Weg« Erscheinungsdatum: 12.12.2008
Subskriptionspreis: 29 Euro (Ladenpreis: 36 Euro)

Mehr dazu unter: http://www.peter-lampasiak.de/index.html

Freitag, 5. Dezember 2008

„Geburt eines neuen Weltjahres"

Einer der schönsten Weihnachtshymnen stammt aus vorchristlicher Zeit. Er zeigt, wie schon aus dem Wissen der alten Mysterien heraus die Weisen die Ankunft des Wesens kannten und erwarteten, das der Welt Heil und Rettung bringen würde. Hier wird darauf hingewiesen, dass sogar schon die Sibylle von Cumae die Ankunft des "Sprösslings" geweissagt habe. Der größte Teil ihrer Bücher sind später verloren gegangen. Es gab also nicht nur im Heiligen Land die Christuserwartung, sondern auch in der römischen Kultur.



Hymnus von Vergil, 40 vor Chr.


Sizilianische Musen lasset uns etwas Größeres singen!

Die letzte Weltzeit beginnt jetzt,

sie wird uns den Mächtigsten bringen;

So lautet die alte Weissagung der grauen Sibylle von Cumae:

Im kreisenden Reigen der Zeiten, auserkoren zu göttlichem Ruhme,

Schon kehret wieder die Jungfrau,

kehrt wieder aus himmlischen Reichen,

Schon wird ein Sprössling entsandt,

erkennet ihr Menschen die Zeichen.

Seid wohlgesonnen dem Kinde,

dem neugeborenen Jungen,

Von dem wir hören herrlich die frohesten Prophezeiungen.

Mit dem die Zeit von Eisen vergeht

und die von Gold wieder aufersteht.


Es beginnen zu strahlen am Himmelszelt

die mächtigen Monde hell in die Welt.

Und alle Spuren unserer Schulden sollen getilgt nun werden,

Erlöst seien vom Schrecken die Lande allüberall auf Erden.


Göttliches Sein wird er tragen in sich,

wie ein göttlicher Held wird er leben.

Unter den Helden erscheinen als Licht

und sein Friedensgeschenk übergeben.

Aus den Kräften des Vaters nur handelnd,

wüste Härte der Erde verwandelnd,

Und erweichend die steinigen Krumen,

Seine Wiege umblühen nur Blumen.


Sterben wird dann die Schlange, und das Kraut voller Gift

Und es wachsen wie Lilien Blüten, wie man im Paradiese sie trifft.

Weiche Ähren im Felde blond golden erglänzen.

Und die Schönheit der Welt übersteigt alle Grenzen.


Ein paar Spuren zwar werden verbleiben des Frevels der Urzeit.

Doch wenn dich zum Manne gemacht die kräftige Erdzeit,

Nicht mehr duldet der Boden die Hacke, der Weinberg der Sichel Spur,

Jetzt löset die Stiere vom Joche der kräftige Bauer beim Pflügen.

Nicht mehr lernt dann die Wolle der Schafe die bunten Farben zu lügen,

Auf der Wiese schon wandelt der Widder sein Vlies in leuchtenden Purpur.


Bald ist's Zeit, tritt an deine Bahn, o strahlender Sprössling nun werde,

Siehe, es wankt und schwankt des Weltendomes Überwölbung,

Länder und Meere, unendlich gedehnt und die Tiefen der Erde,

Sie grüßen das neue Äon es jubelt das Weltall in Hoffnung.

O, es reiche aus mir mein Leben, deine Herrlichkeit zu lobpreisen,

Übertreffen will ich im Lobpreis der Sänger uralte Weisen.


Fang bald an, kleiner Junge, im Lachen die Mutter zu kennen!

Brachten der Monate zehn deiner Mutter doch lange Beschwerden.

Fang bald an, kleiner Junge deinen Weg hier auf Erden.


Auszug aus: 4. Lied der Hirtengedichte, bearbeitet von D. C.


Siehe auch: Hans Zimmermann http://12koerbe.de/pan/ekloga4.htm

Freitag, 28. November 2008

Fussball

Was wir schon immer ahnten, nun ist es offiziell- weil es auch darüber endlich ein Buch gibt:
Fussball ist eine "Religon"!

Ein evangelischer Theologe, Dennis Stork, hat es nachgewiesen. In der Braunschweiger Zeitung konnte man am 25.Nov. 2008 einen Bericht darüber lesen:

"Wie der Fußball die Seele ergreift

Der Salzgitteraner Theologe Dennis Stork plädiert in einem Buch dafür, Fußball als Religion ernst zu nehmen

Von Florian Arnold

Kann Fußball für Fans zur Religion werden? Und wenn ja: Ist das schlimm?

Ja, er kann. Und schlimm ist das nicht unbedingt, schreibt Dennis Stork in seinem Buch "Religion und Fußball. Wie der Fußball sich um die Seele sorgt".

Die Standpunkte mögen verblüffen. Denn Stork ist ausgebildeter Pastor und Religions- und Lateinlehrer am Gymnasium Salzgitter-Bad. Da könnte man erwarten, dass der 30-Jährige bierseeliger Kickerverehrung in aufgedonnerten Betonburgen reserviert gegenübersteht.

....Religion zeichnet sich für Stork dadurch aus, dass sie Gläubige in ihrer Seele berührt. Das tut Fußball bei Fans ohne Zweifel, meint er. Spielresultate ihres Lieblingsclubs könnten die sich besser merken als Hochzeitstage oder Kindergeburtstage."

Den ganzen Artikel kann man unter :http://www.newsclick.de

nachlesen.

Samstag, 22. November 2008

Moderne Kunst

Wie dem Komponisten Elliott Carter (s.u.) so müsste es eigentlich vielen "modernen" Künstlern gehen. Es ist ja nur schwer verständlich, warum viele Elemente der modernen Kunst die Richtung nehmen konnten, die sie heute eben genommen haben. Das künstlerische Empfinden kann dabei ja eigentlich keine Rolle spielen, denn man muss es geradezu überwinden, um vielen "Kunstgegenständen" überhaupt noch gegenübertreten zu können.

In Wirklichkeit ist es dabei ähnlich wie bei dem, was sich jetzt in der Finanzkrise gezeigt hat. Wenn einige etwas machen, so unsinnig es auch sei, dann meinen alle, es auch mitmachen zu müssen. Bei den Finanzen hat nun die Realität das Absurde zum Einsturz gebracht. Aber wer soll bei der Kunst für die Korrektur sorgen, wenn es das Herz und der Verstand nicht kann?

Carter hatte im hohen Alter eine weisheitsvolle Erkenntnis. Viele andere Künstler werden sie wohl in diesem Leben nicht mehr haben können:


"... ich habe in der Zeitung Die Welt einen Artikel über einen der bekanntesten avantgardistischen Komponisten gelesen, den sogenannten Nestor oder Nestroy der Atonalität, Elliott Carter. Die Atonalen sind Musiker, die der Musik misstrauen. Carter hat jetzt erklärt, dass er seine gesamte Musik, alles, was er in den letzten fünfzig Jahren zusammenkomponiert hat, für scheußlich hält. „Niemand mag das hören“, sagt Carter. Er habe sein Leben verschwendet. Er schimpfte auf die Kritiker, die ihn gelobt, und auf die Dirigenten, die seinen, wie er selber es nennt, „Unsinn“ dirigiert haben. Er entschuldige sich beim Publikum. Er wolle in Zukunft zum Beispiel irische Folksongs komponieren. Das werden nicht allzu viele irische Folksongs sein.

Elliott Carter ist 98 Jahre alt. Außerdem möchte er seine gesamten avantgardistisch-atonalen Werke überarbeiten und sie mit traditionellen Melodien zum Mitsingen versehen. Daraufhin wurde er gefragt, wie er überhaupt auf diesen stilistischen Irrweg gelangen konnte. Carter sagt, seine Frau sei schuld. „Sie mochte dieses Zeug.“ Er habe zu seiner Frau einfach nicht Nein sagen können und habe deswegen, quasi aus Gutmütigkeit und Gattenliebe, fünfzig Jahre lang eine avantgardistische Musik nach der anderen komponiert. Kürzlich ist seine Frau gestorben. ..."


Originaltext: http://www.zeit.de/2007/33/Martenstein


Donnerstag, 13. November 2008

Die Goldenen Sprüche des Pythagoras

Die Goldenen Sprüche des Pythagoras (582 - 497 v. Chr.)

Liebe

ist das Einzige,
was wächst,
wenn wir sie verschenken.

Pflicht ohne Liebe
macht verdriesslich.

Verantwortung ohne Liebe
macht rücksichtslos.

Gerechtigkeit ohne Liebe
macht hart.

Wahrheit ohne Liebe
macht kritiksüchtig.

Erziehung ohne Liebe
macht widerspruchsvoll.

Klugheit ohne Liebe
macht gerissen.

Freundlichkeit ohne Liebe
macht heuchlerisch.

Ordnung ohne Liebe
macht kleinlich.

Sachkenntnis ohne Liebe
macht rechthaberisch.

Macht ohne Liebe
macht gewalttätig.

Ehre ohne Liebe
macht hochmütig.

Besitz ohne Liebe
macht geizig.

Wirklich:
Ohne die Liebe
ist alles in der Welt verkehrt.
Erst die Liebe macht alles gut.

Pythagoras

Freitag, 7. November 2008

Das „Mittel“ und das „Ich“

Es gibt Mittel, um wach zu werden, um wach zu bleiben, um besser einzuschlafen, um sich wohler zu fühlen, um sich besser zu entspannen, um gesund zu werden, ...usw.

Für alles gibt es ein „Mittel“. Ist das nicht auch alles „Doping“?


Es gibt die erlaubten, allgemein anerkannten „Mittel“ und es gibt die unerlaubten „Mittel“. Doch wer zieht die Grenzen?


Aufgerufen ist der Mensch heute, alles aus seiner Ichkraft heraus zu tun. Das „Ich“ wirke, nicht das Mittel.


Das Mittel kann als Medizin im Falle einer Krankheit vorübergehend helfen, bis der Mensch wieder seine volle Ichheit aktivieren kann und sich selbst erweckt, beruhigt, entspannt, konzentriert ...

Samstag, 25. Oktober 2008

Geld - Ware -Arbeit

Aus der Tatsache, dass Geld nur ein Gegenwert für Waren sein kann, geht dann logisch auch hervor, dass man menschliche Arbeit nicht mit Geld bezahlen kann. In seiner Arbeit lebt der Mensch mit seiner ganzen Wesenheit. Für Arbeit bezahlt zu werden, ist wie ein Verkaufen der eigenen Seele. Unbewusst oder heute auch oft schon bewusst leiden viele Menschen unter dieser Tatsache, da sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen. Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man dieses Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit ähnlichen Gefühlen betrachten wird, wie sie sich einstellen, wenn man heute auf die Sklaverei sieht:

„... Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform hat sich diese Arbeit dem sozialen Organismus so eingegliedert, dass sie durch den Arbeitgeber wie eine Ware dem Arbeitnehmer abgekauft wird. Ein Tausch wird eingegangen zwischen Geld (als Repräsentant der Waren) und Arbeit. Aber ein solcher Tausch kann sich in Wirklichkeit gar nicht vollziehen. Er scheint sich nur zu vollziehen. In Wirklichkeit nimmt der Arbeitgeber von dem Arbeiter Waren entgegen, die nur entstehen können, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft für die Entstehung hingibt. Aus dem Gegenwert dieser Waren erhält der Arbeiter einen Anteil, der Arbeitgeber den andern. Die Produktion der Waren erfolgt durch das Zusammenwirken des Arbeitgebers und Arbeitnehmers. Das Produkt des gemeinsamen Wirkens geht erst in den Kreislauf des Wirtschaftslebens über. Zur Herstellung des Produktes ist ein Rechtsverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer notwendig. Dieses kann aber durch die kapitalistische Wirtschaftsart in ein solches verwandelt werden, welches durch die wirtschaftliche ワbermacht des Arbeitgebers über den Arbeiter bedingt ist. Im gesunden sozialen Organismus muss zutage treten, dass die Arbeit nicht bezahlt werden kann. Denn diese kann nicht im Vergleich mit einer Ware einen wirtschaftlichen Wert erhalten. Einen solchen hat erst die durch Arbeit hervorgebrachte Ware im Vergleich mit andern Waren. Die Art, wie, und das Maß, in dem ein Mensch für den Bestand des sozialen Organismus zu arbeiten hat, müssen aus seiner Fähigkeit heraus und aus den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins geregelt werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Regelung von dem politischen Staate aus in Unabhängigkeit von den Verwaltungen des Wirtschaftslebens geschieht. ...“

Aus: Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage, S.77 f

Da Geld ein Gegenwert für Ware ist, so muss es sich auch mit der Ware verändern. Die Ware wird alt, verbraucht sich, wird weniger wert. Das Gleiche muss auch mit dem Geld geschehen:

"Just dasjenige, was Geld ist, das ist etwas, was merkwürdigerweise im volkswirtschaftlichen Leben, trotzdem es ganz in Äquivalenz steht mit den anderen volkswirtschaftlichen Elementen, sich nicht abnutzt. Radikal können Sie sich das dadurch vorstellen, dass Sie sich zum Beispiel denken: Ich habe für, sagen wir, fünfhundert Franken Kartoffeln. Wenn ich für diese fünfhundert Franken Kartoffeln habe, so muss ich dafür sorgen, dass ich sie losbringe, das heißt ich muss etwas tun, dass ich sie losbringe. Und nach einiger Zeit sind sie eben nicht mehr da. sind sie verbraucht, sind sie weg. Wenn das Geld in Äquivalenz steht mit den Gütern, mit den bearbeiteten Gütern, so müsste es sich abnützen. Das Geld müsste, genauso wie die anderen Güter, sich abnützen. Das heißt, wenn wir nicht abnutzbares Geld im volkswirtschaftlichen Körper drinnen haben, dann verschaffen wir unter Umständen dem Geld einen Vorteil gegenüber den abnützbaren Güter.Das ist außerordentlich wichtig. Und es wird erst ganz wichtig, wenn man folgendes bedenkt: Wenn man bedenkt, was ich anwenden muss, wenn ich, sagen wir, nach fünfzehn Jahren durch meine ganze Betätigung so weit gekommen sein soll, dass ich dadurch, dass ich heute eine Menge Kartoffeln habe, dann die doppelte Menge Kartoffeln habe, von den Kartoffeln, die es dann geben wird; und wenn man nun bedenkt, wie wenig jemand als einzelne Persönlichkeit zu tun braucht, wenn er heute in Geld fünfhundert Franken hat, um das Doppelte zu haben in fünfzehn Jahren! Es genügt, wenn er gar nichts tut, wenn er seine gesamte Arbeitskraft dem sozialen Organismus entzieht und die anderen arbeiten lässt, dass er beleiht und die anderen arbeiten lässt. Wenn er mittlerweile nicht selber für den Verbrauch sorgt: das Geld hat es nicht nötig, sich abzunutzen. Dadurch wird aber sehr viel von dem, was dann empfunden wird als eine soziale, sagen wir Unrichtigkeit, erst in den sozialen Körper hineingebracht."

Aus: Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, GA 340 ,Seite 164 f


Freitag, 24. Oktober 2008

Die ersten Kraniche ziehen

Ein mild sonniger Oktobertag. Strahlend steht nördlich der Sonne eine Nebensonne. Da hört man Kranichrufe. Am Südhimmel schwingt sich eine lange Keil-Linie durch die Lüfte. Die Rufe der Vögel dringen einem wie Musik oder Gesang in die Seele.

Da kommt die Nachbarin: Die machen aber einen Lärm!

In dem Moment beginnt sich die bewegte Linie aufzulösen. Chaotisch wirbeln die Vögel durcheinander. Ziehen statt Südwest wieder zurück. Finden sich neu und formen wider ihr himmlisches Zeichen, weiter in die Spätnachmittags-Sonne.

Die Erhabenheit dieses Naturereignisses kann die Menschenseele tief ergreifen.

Finanzwirtschaft

Im Rahmen des Nationalökonomischen Kurses weist Rudolf Steiner am 1.August 1922 auf den Grundzug des modernen Geldwesens hin:

(Unterstreichungen D.C.)


„Die Blütezeit, ich möchte sagen, das klassische Zeitalter des Leihkapitals trat eigentlich erst im 19.Jahrhundert, und zwar erst eigentlich gegen das zweite Drittel des 19.Jahrhunderts ein. Und damit ist dann zu verzeichnen in der geschichtlichen Entwickelung das Heraufkommen derjenigen Institutionen, die namentlich dem Beleihen dienen, das Heraufkommen des Bankwesens. So dass das klassische Zeitalter des Leihkapitals und damit die Entfaltung des Bankwesens in die letzten zwei Drittel des 19.Jahrhunderts und in die ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts fällt. Mit der Entwickelung des Bankwesens entwickelt sich immer mehr und mehr die Beleihung als dasjenige, was, ich möchte sagen, nun als ein erster Faktor eintritt in den volkswirtschaftlichen Prozess. Aber dabei hat sich zu gleicher Zeit etwas ganz Besonderes gezeigt, gerade beim Beleihen, nämlich das, dass nun durch das Beleihen im großen Stil unter der Ausbreitung des Bankwesens dem Menschen die Herrschaft über die Geldzirkulation eigentlich entzogen worden ist, dass nach und nach der Zirkulationsprozess des Geldes ein solcher geworden ist, der sich ja, ich finde keinen andern Ausdruck , der sich unpersönlich abspielt; so dass, was ich schon erwähnt habe im ersten Vortrag, tatsächlich die Zeit heraufgezogen ist, wo das Geld nun selber wirtschaftet, und der Mensch bald droben, bald drunten ist, je nachdem er in diesen ganzen Strom der Geldwirtschaft hineingezogen wird. Er wird es nämlich viel mehr, als er es eigentlich denkt; denn es hat sich die Geldzirkulation gerade im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts verobjektiviert, ist unpersönlich geworden. ... Da fangen diese volkswirtschaftlichen Impulse an, rein finanzwirtschaftliche Impulse zu werden durch das Bankwesen. Damit wird das Ganze nicht nur unpersönlich, sondern sogar unnatürlich; es wird alles in die sich selbst bewegende Geldströmung hineingezogen. Geldwirtschaft ohne natürliches und persönliches Subjekt, das ist dasjenige, wo hintendiert hat gegen das Ende des 19.Jahrhunderts das, was ursprünglich durchaus vom persönlichen und vom natürlichen Subjekt getragen war.“

Aus Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, GA 340 , S. 137 f

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Neurobiologie : Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer |

Bei diesem Veröffentlichungssystem im Internet muss man eigentlich die Beiträge immer rückwärts lesen. Also dieser Beitrag folgt auf den Beitrag, den man weiter unten findet und schließt sich an diesen an. Im konkreten Fall ist die Geschichte von Manfred Kyber "Nachruhm" gemeint. Dort wird von einem Forscher erzählt. Anschließend kann man dieses Interview mit einem der bedeutendsten Wissenschaftler der Welt lesen und seine Verbindungslinien ziehen. Hier finden Sie deutlich noch das Mäntelchen einer abstrakt gewordenen christlich, bürgerlichen Ethik angezogen. Manchmal blitzt dann die wahre Denkart unter diesem Mätelchen hervor:
Bei Mönchen kann das "Jesus-Syndrom" auftreten, das ist eine Krankheit... doch lesen Sie selbst:


Neurobiologie : Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer |
"ZEIT ONLINE"


Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer über Erfahrungen bei der Meditation und die Neurobiologie des Religiösen


DIE ZEIT: Professor Singer, Sie haben mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard einen Dialog über Hirnforschung und Meditation publiziert. Neuerdings meditieren Sie auch selbst. Wird der Hirnforscher Singer zum Esoteriker?
Wolf Singer: Nein (lacht). Mein Interesse an der Meditation hat zwei Gründe: Zum einen war ich einfach neugierig; zum anderen hatte ich vor einigen Jahren eine Phase, in der ich beruflich enorm belastet war und viel zu viel am Hals hatte. Da entstand der dringende Wunsch nach einer Auszeit. Also habe ich mich zu einer zehntägigen Zen-Übungsperiode angemeldet, einem »Sesshin« – ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. Tatsächlich waren diese zehn Tage ein hartes Regime: Schweigen, keinerlei äußere Reize, stundenlanges Sitzen vor der Wand, konzentriert auf die Haltung, die Atmung, den gegenwärtigen Moment. Aber es war eindrucksvoll.
ZEIT: »Sesshin« heißt wörtlich »vertraut werden mit dem eigenen Geist«. Was hat diese Erfahrung bei Ihnen bewirkt?
Singer: Ich hatte es hier am Institut niemand erzählt. Aber Mitarbeiter haben mich später bei der Weihnachtsfeier gefragt, wo ich denn den Sommer verbracht hätte. Ich sei so anders gewesen, so ruhig. Ich habe auch selbst bemerkt, dass nach dem Sesshin manches anders war. Plötzlich fuhr ich auf der rechten Spur der Autobahn, brauchte kein Radio und war eigentlich ganz glücklich mit mir. Und im Institut habe ich versucht, dieses pathologische Tasksharing, bei dem man fünf Dinge gleichzeitig tut, zu durchbrechen. Das hat aber nicht lange angehalten.
ZEIT: Was passiert während der Meditation neurobiologisch im Gehirn?

Singer: Bislang gibt es leider wenig aussagekräftige Studien darüber. Aber es ist klar, dass man in der Meditation einen mentalen Zustand erreicht, der sich von demjenigen im Alltag deutlich unterscheidet. Bei mir hat sich zum Beispiel einmal die sogenannte okulare Rivalität verändert, der Wechselrhythmus zwischen beiden Augen. Normalerweise läuft der im Sekundentakt, mal schaut man mit dem einen, mal mit dem anderen Auge, ohne dass einem dies bewusst wäre. Doch in der Meditation veränderte sich mein Gesichtsfeld, plötzlich fehlte die eine Blickrichtung, dann die andere. Der Wechselrhythmus hatte sich so extrem verlangsamt, dass ich ihn wahrnehmen konnte.
ZEIT: Was hat der Neuroforscher Singer aus den Erfahrungen des Meditierenden Singer über das Gehirn gelernt?
Singer: Man kann viel darüber lernen, wie das Gesamtsystem im Grundzustand arbeitet. Man erlebt, was passiert, wenn einen nichts zwingt zu reagieren, sondern wenn sich einfach entfalten kann, was in diesem System alles steckt. In diesem Default-Zustand stellt sich ein Gefühl des »In-der-Welt-Seins« ein. Diese Erfahrung entspricht mit Sicherheit getreuer der Persönlichkeit, die man ist, als das, was man erlebt, wenn man ständig von Tagesereignissen getrieben wird.
ZEIT: Haben Sie sich auch schon früher für religiöse Praktiken interessiert?
Singer: Ich habe mal eine Zeit bei den Eremitenmönchen auf dem Berg Athos zugebracht. In der Fastenzeit vor Ostern haben sich die Mönche alle zwei Stunden aufwecken lassen und gemeinsam gesungen, was mit starker Hyperventilation einherging. Schließlich berichteten sie, dass sie ein großes Licht sahen, Stimmen hörten und in Kontakt kamen mit der Welt der Gottheit. Solche Halluzinationen sind das Ergebnis von Schlafentzug und Hyperventilation. Auch das Jesus-Syndrom kann dann auftreten.
ZEIT: Das Jesus-Syndrom?
Singer: Es ist ein Krankheitsbild, bei dem im temporalen Bereich des Gehirns Epilepsien auftreten. Das führt nicht zu großen Anfällen, sie sind von außen kaum zu sehen, aber man bemerkt sie, wenn man die Hirnströme misst. Die Patienten berichten dabei häufig von einem wunderbaren Gefühl, das sich in ihnen ausbreite: Plötzlich stimme alles mit allem überein. Sie beschreiben dieses Gefühl so, wie Religionsstifter die Erleuchtung beschreiben. Der Hirnforscher aber weiß: Da krampft ein Stück Gehirn, das normalerweise als eine Art innerer Zensor fungiert. Es überprüft, ob Hirnzustände kohärent sind. Wenn sich dieses Areal selbstständig macht, entsteht eben genau dieses versöhnliche Gefühl.
ZEIT: Heißt das: Jedes Erleben eines solchen Einsseins, der Versöhnung, ist krankhaft?
Singer: Nein, überhaupt nicht. Man kann ja denselben Zustand auch ganz real herstellen, indem man zum Beispiel Konflikte wirklich beseitigt. Und das, vermute ich, kann man durch solche mentalen Praktiken durchaus fördern.
ZEIT: Wie vertragen sich Ihre Meditationserlebnisse mit Ihrer eigenen christlichen Religion?
Singer: Für mich hat diese Art der Meditation überhaupt keine religiöse Konnotation. Ich weiß, dass man sie benutzen kann, um Erfahrungen zu machen, die man gern einer metaphysischen Dimension zuschreibt. Meister Eckhart hat ja als christlicher Mystiker einst Praktiken zur Erfassung des Transzendentalen vorgeschlagen, die der buddhistischen Meditation ganz nahe sind.
Zeit: Sind Sie Christ, Buddhist oder Atheist?
Singer: Ich bin zwar tatsächlich in manchen intuitiven Auffassungen, etwa darüber, wie die Welt strukturiert ist, gewissen Interpretationen des Buddhismus nahe. Allerdings würde ich mich nicht als Buddhist bezeichnen. Denn ich bin natürlich als integriertes Mitglied dieser abendländischen Gesellschaft massiv geprägt von christlichen Glaubens- und Wertevorstellungen.
ZEIT: Glauben Sie an einen persönlichen Gott?
Singer: Als Naturwissenschaftler kann ich die konkreten Ausformungen dieses Glaubenssystems oft nicht nachvollziehen. Zwar halte ich es für möglich, dass ich etwa durch das Beten eine Selffulfilling Prophecy in Gang setze und mich in einen Zustand bringe, in dem ich das Gewünschte tatsächlich irgendwann erreiche. Aber ich habe erhebliche Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass eine wie auch immer geartete, für mich unsichtbare Gottheit alles durchdringt, das Geschehen auf der Erde steuert und sich auch noch um mich persönlich kümmert.
ZEIT: Also sind Sie Atheist?
Singer: Nein, auch nicht. Denn ich weiß natürlich, dass es jenseits des Begreifbaren noch Dimensionen gibt, für die ich keinen Namen habe.
ZEIT: Für einen nüchternen Kopf wie Sie muss es doch irritierend sein, dass sich bis heute religiöse Glaubensüberzeugungen halten, die dem wissenschaftlichen Denken zutiefst zuwiderlaufen. Wie erklären Sie sich das?
Singer: Wir haben unsere Religionssysteme alle erfunden. Dafür sprechen schon die kulturspezifischen Ausprägungen. Wir sind aufgrund des Soseins unseres Gehirns darauf festgelegt, Ursachen für Phänomene zu suchen. Und da es viele Wirkungen in der Welt gibt, deren Ursachen wir nicht ergründen können, liegt es nahe, sie einem höheren Wesen zuzuschreiben. Das erlaubt eine weitere hochwirksame Projektion: Denn nun kann man Verhaltensweisen, die sich in der Erfahrung als sinnvoll herausgestellt haben (nicht zu töten, zu lügen, zu stehlen), als Verordnung dieser höheren Instanz deklarieren. Dadurch entzieht man sie der menschlichen Verfügbarkeit – und das ist ein sehr effizientes Mittel, um Gruppen auf einen gleichen Kodex einzuschwören. Das hat sich offenbar im Laufe der kulturellen Evolution enorm bewährt.
ZEIT: Die religiösen Gebote sind für Sie so etwas wie kollektive Erfahrung?
Singer: Ja, und zwar über die Generationen hinweg. Das christliche Gebot zum Beispiel, die andere Wange hinzuhalten: Das Individuum mag von solchen Verhaltensweisen nicht profitieren; doch die Gesellschaft tut es im Laufe ihrer Geschichte sehr wohl. Das kann durchaus nach dem darwinistischen Prinzip geschehen sein. Mag sein, dass gerade die Gruppen überlebten, die altruistische Verhaltensnormen so kodiert haben. Denn eine religiöse Begründung ist eine schnelle methodische Abkürzung. Darüber muss man nicht lange diskutieren, das wird so gemacht, weil es in der Bibel steht. Natürlich hat dieses Prinzip auch seine Schattenseiten. Was im Namen der Religion alles an Schrecklichem geschah – das wird dann genauso wenig hinterfragt.
ZEIT: Kann man sich eine aufgeklärte Religion vorstellen, ohne Intoleranz und Fanatismus?
Singer: Die Frage ist, ob man moralische Werte nicht auch anders verankern kann als religiös. Ich würde denken ja. Unsere Rechtssysteme tun das ja schon. Man müsste, glaube ich, auch bereit sein, zuzugeben, dass man nicht durch schieres Nachdenken jede Lebenssituation im moralischen Sinne entscheiden kann. Und sicher spielt das Wort Demut eine große Rolle. Vielleicht kann man durch mentale Praktiken wie die Meditation Menschen dazu bringen, Einsichten zu gewinnen, die es ihnen erlauben, über den schnöden rationalen Egoismus hinauszusehen.
ZEIT: In der Meditation geht es für Sie also nicht um verzückte Erleuchtung, sondern eher darum, sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist?
Singer: Viel zu viele Leute tun nur so, als sei in ihrem Leben alles in Ordnung. Auf diese Weise ernährt sich ein System, das jenem gleicht, das die Hochglanzpostillen verbreiten. Würde man seine Fehler öfter offenlegen, käme vielleicht mehr Demut in die Welt und mehr Verständnis; auch mehr Toleranz und Dialogbereitschaft. Es ist ja wahnsinnig anstrengend, diese Potemkinschen Dörfer aufrecht zu erhalten.
ZEIT: Deshalb haben auch Religionsstifter immer wieder die Heuchelei ihrer Zeit angeprangert. Doch oft sind aus diesen Impulsen ihrerseits religiöse Systeme entstanden, die einen gewaltigen sozialen Druck aufbauten.
Singer: Rückhaltlos ehrlich zu sein, mit sich selbst und den anderen, ist eben schwer. Ich vermute, diese Mechanismen, von denen Sie sprechen, sind zutiefst menschlich. Ein ideales System, mit dem man allen Schwierigkeiten aus dem Weg geht, gibt es nicht.
ZEIT: Ist vielleicht auch das eine tiefe religiöse Erkenntnis: zu merken, dass es den idealen Pfad zum Heil nicht gibt?
Singer: Ja. Und dennoch nicht zu resignieren – das ist das Kunststück.
Das Gespräch führte Ulrich Schnabel. Zudem ist es Teil des Buches "Die Vermessung des Glaubens" (s.u.)

Zur Person:

Wolf Singer
Wolf Singer, 65, ist einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands und Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Vergangenes Wochenende sollte Singer in Berlin mit dem Dalai Lama diskutieren – doch der musste krankheitsbedingt absagen.Als Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung will Singer einen aufgeklärten Humanismus fördern. Obwohl der Forscher Religiosität mithilfe der Evolutions- und Neurobiologie erklärt und die Willensfreiheit anzweifelt, hält er religiöse Riten für nützlich.

"Nachruhm" Eine Geschichte von Manfred Kyber

Nachruhm (gekürzt)

Die Totenfeier am Sarge des berühmten Anatomen und Leiters des Physiologischen Instituts der alten Universität gestaltete sich zu einer ergreifenden Huldigung der akademischen Kreise vor den Verdiensten des großen Verstorbenen. Der Katafalk war mit Kränzen und seidenen Schleifen behängt, in Lorbeer und Blumen gehüllt, brennende Wachskerzen umrahmten ihn, und vor ihm waren auf samtenen Kissen die zahlreichen Orden ausgebreitet, die der gelehrte Forscher mit berechtigtem Stolz getragen hatte. Zu beiden Seiten der Bahre standen die Chargierten der Korporationen mit blanken Schlägern, und neben den Angehörigen saßen der Senat der Universität in vollem Ornat, sämtliche Professoren der Hochschule und die Vertreter der Behörden. Der Priester hatte soeben seine Rede beendet, die allen tief zu Herzen gegangen war.

»Er war ein vorbildlicher Mensch und ein vorbildlicher Gelehrter«, schloss er, »er war das eine, weil er das andere war, denn ein großer Forscher sein, heißt ein großer Mensch sein. Wir stehen an der Bahre eines ganz Großen, mit Trübsal in der Seele, weil er uns genommen ist. Aber mitnichten sollen wir trauern und wehklagen; denn dieser große Tote ist nicht tot, er lebt weiter und steht nun vor Gottes Thron im vollen Glanze seines ganzen arbeitsreichen Lebens, wie es denn in der Schrift heißt: sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach!«

Alle schwiegen ergriffen, und es fiel auch niemand auf, dass der Priester anscheinend eine Kleinigkeit vergessen hatte, nämlich die, dass der große Tote, der nun vor Gottes Thron stehen sollte, sein ganzes Leben lang für die Überzeugung eingetreten war, dass es gar keinen Gott gäbe. Aber solche Kleinigkeiten werden bei Grabreden meistens vergessen.

Hierauf erhob sich der Rektor der Universität mit der goldenen Amtskette um den Hals und sprach mit bewegter Stimme warme Worte des Nachrufs für seinen berühmten Kollegen.

»Er war allezeit eine Zierde unserer alten alma mater und eine Zierde der Wissenschaft, der er sein ganzes Dasein geweiht hatte, ein Vorbild uns und allen, die nach uns kommen werden, denn auf ewig wird sein Name in goldenen Lettern auf den Marmortafeln der menschlichen Kultur glänzen. Ich kann in diesem ernsten und feierlichen Augenblick nur weniges aus der Überfülle seines Geistes herausgreifen, nur andeuten, wie er unermüdlich an unzähligen Tierversuchen Beweis auf Beweis gehäuft. Es ist nicht auszudenken, welche unerhörten Perspektiven sich mit diesen völlig neuen medizinischen Tatsachen der leidenden Menschheit und der Wissenschaft als solcher eröffnen. Nur nacheifern können wir dem gewaltigen Forscher, der uns solche Wege gewiesen, und wir und die ihn bewundernde akademische Jugend, der er ein Führer zu wahrem Menschentum war, wir wollen an seiner Asche geloben, sein Lebenswerk fortzusetzen und auszubauen, zum Heile der europäischen Wissenschaft und zur Ehre unseres geliebten Vaterlandes. Es hat unserem großen Toten nicht an reicher Anerkennung gefehlt, wie wir dankbar feststellen können, auch von allerhöchster Stelle sind ihm ehrenvolle Zeichen der Huld zuteil geworden« - alle Blicke richteten sich staunend auf das Samtkissen mit den Orden, die einige Pfund wogen - , »ja, noch kurz vor seinem Tode ward ihm die Freude, zum Wirklichen Geheimen Medizinalrat mit dem Prädikat Exzellenz ernannt zu werden, eine Ehrung, die mit ihm auch unsere ganze Hochschule als solche empfunden hat. ...

Der Vertreter des Staates erklärte, dass der Verstorbene eine Säule des modernen Staatswesens gewesen sei, und der Vertreter der Stadt sagte, dass der Magistrat einstimmig beschlossen habe, einer Straße den Namen des großen Toten zu verleihen. Der Kirchenchor sang ein Lied, es war ein altes Lied aus einer alten Zeit. Andere Menschen mit anderer Gesinnung hatten dies alte Lied geschaffen, und es nahm sich seltsam aus nach den tönenden Worten von heute. Sehr leise und überirdisch sang es wie mit fremden Stimmen durch den Raum: »Wie wird's sein, wie wird's sein, wenn wir ziehn in Salem ein, in der Stadt der goldenen Gassen...«

Dann sank der Sarg in die Tiefe.

Der Tote hatte die ganze Zeit dabeigestanden. Ihm war, als habe sich eigentlich nicht viel geändert. Er erinnerte sich nur, einen sehr lichten Glanz gesehen zu haben, dann war alles wieder wie sonst, und er wusste kaum, dass er gestorben war. Nur leichter war alles an ihm, keine Schwere mehr und keine grobe Stofflichkeit. Ein großes Erstaunen fasste ihn - es gab also doch ein Fortleben nach dem Tode, die alte Wissenschaft hatte recht, und die neue hatte unrecht. Aber es war schöner so, und es beruhigte ihn sehr, obwohl es anfangs etwas quälendes hatte, dass er mit niemand mehr sprechen konnte, dass keiner seiner Angehörigen und seiner Kollegen merkte, wie nahe er ihnen war. Immerhin war es tröstlich, zu hören, wie man ihn feierte und dass man so zuversichtlich von Gottes Thron und von der Asphodeloswiese gesprochen hatte. Freilich - die Titel und Orden fehlten ihm, sie erschienen nicht mehr greifbar. Aber war er nicht immer noch der große Gelehrte, der berühmte Forscher? Hieß es nicht: und ihre Werke folgen ihnen nach? ...

Er war nun allein, die Umrisse des Raumes wurden dunkel und verschwammen ins Raumlose. Es war sehr still, nur ganz ferne verklang das alte Lied, kaum noch hörbar: Wenn wir ziehn in Salem ein - in die Stadt der goldnen Gassen...

Das würde nun erfolgen, vielleicht gleich. Eine große Spannung erfüllte ihn; aber in dieser Spannung war etwas von Angst, etwas Unsagbares, eine große bange Frage, die ihn ganz ausfüllte. Es war auch so dunkel geworden, man konnte nichts mehr sehen.

Dann wurde es hell, und ein Engel stand vor ihm. Also auch das gab es. Dann würde es ja auch einen Gott geben und die vielen Toten, die lebendig waren, und das geistige Jerusalem. Wie schön war das alles! Aber der Engel sah ernst und sehr traurig aus.

»Wohin willst du?« fragte er.

»Ins Paradies.«

»Komm!« sagte der Engel.

Große dunkle Tore öffneten sich lautlos, und sie traten in einen Raum, der grell erleuchtet war. Die Wände waren blutrot, und auf dem Boden hockten unzählige verstümmelte Tiere und wimmerten. Sie streckten die zerschnittenen Glieder nach dem Toten aus und sahen ihn aus geblendeten und erloschenen Augen an. Immer weiter, ins Unabsehbare, dehnte sich ihre Reihe.

»Hier sind die Hündinnen, denen du bei lebendigem Leibe die Jungen herausgeschnitten hast. Hattest du keine Kinder, die du liebtest? Wenn deine Kinder sterben, und sie suchen den Vater im Paradies, so werden sie dich hier finden. Es ist das Paradies, das du dir geschaffen hast. Hier sind die Katzen, denen du das Gehör zerstört hast unter grässlichen Martern. Gott gab ihnen ein so feines Gehör, dass es ein Wunder der Schöpfung ist. Du wirst nichts mehr hören als das. ...«

»Das ist entsetzlich«, sagte der Tote.

»Das ist es«, sagte der Engel.

»Leben denn alle diese Tiere weiter?« fragte der Tote.

»Alle diese Tiere leben bei Gott«, sagte der Engel, »du kannst nicht dorthin, denn sie stehen davor und klagen dich an, sie lassen dich nicht durch. Was du hier siehst, sind ihre einstigen Spiegelbilder, es sind deine Werke, und sie bleiben bei dir. Du wirst alle ihre Qualen an dir erfahren, bis du wieder zur Erde geboren wirst, um zu sühnen. Es ist ein langer und trauriger Weg. Aber sie werden nicht deine einzigen Gefährten sein. Du hast noch einen anderen, sie her, wer vor dir steht inmitten all deiner Werke!«

Der Tote sah auf und erblickte ein scheußliches Gespenst mit einer menschlichen Fratze, in einem Gewand voll Schmutz und Blut mit einem Messer in der Hand.

»Das ist das Scheußlichste, was ich jemals sah«, sagte der Tote, und es packte ihn ein Grauen, wie er es noch nie erlebte. »Wer ist dieses Scheusal? Muss ich das immer ansehen?«

»Das bist du«, sagte der Engel.

»Aber die Wissenschaft?« fragte der Tote angstvoll, »habe ich ihr nicht gedient? Gehöre ich nicht zu den großen Geistern, auch wenn ich diese Taten beging?«

»Die großen Geister waren den Tieren Brüder und nicht Henker«, sagte der Engel, »sie würden dir den Rücken kehren, wenn du es wagen könntest, zu ihnen hinaufzugelangen. Aber du gelangst gar nicht in ihre Nähe. Du warst eine Null und kein großer Geist. Du wusstest es auch, dass du eine Null warst, du wusstest, dass dir nichts einfallen würde, und darum hast du aus Eitelkeit all diese Greuel begangen, in der Hoffnung, der Zufall könnte dir etwas von den Geheimnissen der Natur enträtseln, wenn du sie folterst. Nachher kam die Mordlust, die Herrscherwut kleiner Seelen dazu. Siehst du das alles? Du kannst es deutlich sehen an deinem Spiegelbild, es hat getreulich all deine Züge aufgezeichnet. Bleibe bei ihm, wasche sein blutiges und schmutziges Kleid, bis es weiß wird wie Schnee! Es kann tausend Jahre dauern, vielleicht auch länger. Bleibe bei ihm, denn du kannst ihm nicht entrinnen. Er ist dein Gefährte, und diese verstümmelten Geschöpfe Gottes sind dein Paradies!«

»Das alles ist wahr«, sagte der Tote, »aber auch wenn ich so dachte und tat, habe ich nicht doch eine Erkenntnis gefördert? Tritt nicht doch die Wissenschaft für mich ein?«

»Eine Erkenntnis durch Verbrechen?« fragte der Engel. »Erkenntnisse hatte die Wissenschaft einst, als sie ein Tempel war. Ich will dir zeigen, wie eure Wissenschaft heute aussieht.«

Ein hässliches gelbes Licht zuckte auf, und der Tote sah einen Narren sitzen, der mit blutigen Händen Kartenhäuser baute. Ein Luftstoß fegte sie um, aber der Narr baute immer weiter.

»Ist das alles?« fragte der Tote und klammerte sich hilfesuchend an das Gewand des Engels.

»Das ist alles«, sagte der Engel, »lehrt eure Wissenschaft nicht auch, dass es keinen Gott und keine Vergeltung und kein Leben nach dem Tode gibt? Ich muss nun gehen. Bleibe in deinem Paradies!«

Der Tote blieb in seinem Paradiese und hatte es vor Augen Stunde um Stunde, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Es ist dies mit einer Zeit nicht mehr zu messen, jedenfalls nicht wissenschaftlich, und das ist doch das einzig maßgebliche, nicht wahr? Aus sehr weiter Ferne klang ein altes Lied aus einer alten Zeit, kaum noch hörbar und verhallend: Wie wird's, wie wird's sein, wenn wir ziehn in Salem ein, in die Stadt der goldenen Gassen...

Vielleicht bedeutet dieses Lied noch etwas, denn wir müssen ja alle einmal sterben? Aber wer denkt heute daran, im Zeitalter der aufgeklärten europäischen Wissenschaft?

Die Zeitungen brachten spaltenlange Nachrufe über den berühmten großen Forscher und Gelehrten, seine Exzellenz den Wirklichen Geheimen Medizinalrat, dessen Tod einen unersetzlichen Verlust für die Wissenschaft bedeute, dessen Name aber für alle Zeiten ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Menschheit bleiben würde, ein herrliches Zeichen unserer fortschrittlichen Kultur und ein Denkmal allen kommenden Geschlechtern, wie es die Besten vor ihm waren. Ehre diesen großen Toten!

Ja sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach.

Aus: "Das Manfred Kyber Buch"



Mittwoch, 22. Oktober 2008

Geld - Ware -Arbeit

Aus der Tatsache, dass Geld nur ein Gegenwert für Waren sein kann, geht dann logisch auch hervor, dass man menschliche Arbeit nicht mit Geld bezahlen kann. In seiner Arbeit lebt der Mensch mit seiner ganzen Wesenheit. Für Arbeit bezahlt zu werden, ist wie ein Verkaufen der eigenen Seele. Unbewusst oder heute auch oft schon bewusst leiden viele Menschen unter dieser Tatsache, da sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen. Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man dieses Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit ähnlichen Gefühlen betrachten wird, wie sie sich einstellen, wenn man heute auf die Sklaverei sieht:

„... Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform hat sich diese Arbeit dem sozialen Organismus so eingegliedert, dass sie durch den Arbeitgeber wie eine Ware dem Arbeitnehmer abgekauft wird. Ein Tausch wird eingegangen zwischen Geld (als Repräsentant der Waren) und Arbeit. Aber ein solcher Tausch kann sich in Wirklichkeit gar nicht vollziehen. Er scheint sich nur zu vollziehen. In Wirklichkeit nimmt der Arbeitgeber von dem Arbeiter Waren entgegen, die nur entstehen können, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft für die Entstehung hingibt. Aus dem Gegenwert dieser Waren erhält der Arbeiter einen Anteil, der Arbeitgeber den andern. Die Produktion der Waren erfolgt durch das Zusammenwirken des Arbeitgebers und Arbeitnehmers. Das Produkt des gemeinsamen Wirkens geht erst in den Kreislauf des Wirtschaftslebens über. Zur Herstellung des Produktes ist ein Rechtsverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer notwendig. Dieses kann aber durch die kapitalistische Wirtschaftsart in ein solches verwandelt werden, welches durch die wirtschaftliche ワbermacht des Arbeitgebers über den Arbeiter bedingt ist. Im gesunden sozialen Organismus muss zutage treten, dass die Arbeit nicht bezahlt werden kann. Denn diese kann nicht im Vergleich mit einer Ware einen wirtschaftlichen Wert erhalten. Einen solchen hat erst die durch Arbeit hervorgebrachte Ware im Vergleich mit andern Waren. Die Art, wie, und das Maß, in dem ein Mensch für den Bestand des sozialen Organismus zu arbeiten hat, müssen aus seiner Fähigkeit heraus und aus den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins geregelt werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Regelung von dem politischen Staate aus in Unabhängigkeit von den Verwaltungen des Wirtschaftslebens geschieht. ...“

Aus: Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage, S.77 f

Da Geld ein Gegenwert für Ware ist, so muss es sich auch mit der Ware verändern. Die Ware wird alt, verbraucht sich, wird weniger wert. Das Gleiche muss auch mit dem Geld geschehen:

"Just dasjenige, was Geld ist, das ist etwas, was merkwürdigerweise im volkswirtschaftlichen Leben, trotzdem es ganz in Äquivalenz steht mit den anderen volkswirtschaftlichen Elementen, sich nicht abnutzt. Radikal können Sie sich das dadurch vorstellen, dass Sie sich zum Beispiel denken: Ich habe für, sagen wir, fünfhundert Franken Kartoffeln. Wenn ich für diese fünfhundert Franken Kartoffeln habe, so muss ich dafür sorgen, dass ich sie losbringe, das heißt ich muss etwas tun, dass ich sie losbringe. Und nach einiger Zeit sind sie eben nicht mehr da. sind sie verbraucht, sind sie weg. Wenn das Geld in Äquivalenz steht mit den Gütern, mit den bearbeiteten Gütern, so müsste es sich abnützen. Das Geld müsste, genauso wie die anderen Güter, sich abnützen. Das heißt, wenn wir nicht abnutzbares Geld im volkswirtschaftlichen Körper drinnen haben, dann verschaffen wir unter Umständen dem Geld einen Vorteil gegenüber den abnützbaren Güter.Das ist außerordentlich wichtig. Und es wird erst ganz wichtig, wenn man folgendes bedenkt: Wenn man bedenkt, was ich anwenden muss, wenn ich, sagen wir, nach fünfzehn Jahren durch meine ganze Betätigung so weit gekommen sein soll, dass ich dadurch, dass ich heute eine Menge Kartoffeln habe, dann die doppelte Menge Kartoffeln habe, von den Kartoffeln, die es dann geben wird; und wenn man nun bedenkt, wie wenig jemand als einzelne Persönlichkeit zu tun braucht, wenn er heute in Geld fünfhundert Franken hat, um das Doppelte zu haben in fünfzehn Jahren! Es genügt, wenn er gar nichts tut, wenn er seine gesamte Arbeitskraft dem sozialen Organismus entzieht und die anderen arbeiten lässt, dass er beleiht und die anderen arbeiten lässt. Wenn er mittlerweile nicht selber für den Verbrauch sorgt: das Geld hat es nicht nötig, sich abzunutzen. Dadurch wird aber sehr viel von dem, was dann empfunden wird als eine soziale, sagen wir Unrichtigkeit, erst in den sozialen Körper hineingebracht."

Aus: Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, GA 340 ,Seite 164 f




Dienstag, 21. Oktober 2008

Der Bruder im Tier


„Das Leben bejahen, heißt alles Leben bejahen, sich selbst in Andacht eingliedern in alles brüderliche Dasein anderer Geschöpfe.“

M.Kyber,"Die drei Lichter der kleinen Veronika"

Zufällig stieß ich vor kurzem wieder auf den Autor Manfred Kyber. Sein besonderes Anliegen, unser Umgang mit den Tieren, gehört ja auch zu unseren Menschheitsaufgaben. Viele Texte von ihm findet man im Internet. Es folgt der Anfang eines Aufsatzes von ihm. Den vollen Text kann man dann unter dem Link am Ende erreichen:


Der Bruder im Tier

Von Manfred Kyber


"Um ein Geschöpf zu verstehen, muß man in ihm den Bruder sehn" - diese Worte habe ich meinen Tiergeschichten vorangestellt, und aus dieser Gesinnung heraus sind sie gestaltet.

Das Tiermärchen begreift weit eher die eigentliche Tierseele als die mehr oder weniger richtigen naturwissenschaftlichen Schilderungen, die doch immer nur die Außenseite erfassen. Man sieht zwar, wie das Tier lebt, welche Eigenheiten es aufweist und wie sich sein Verhältnis zu den anderen Tiergattungen bildet, aber man erkennt damit nicht den Bruder im Tier. Das Märchen sieht das Tier transparenter, es sieht in seine Seelenhaftigkeit und wenn es auch manchesmal die äußeren Fähigkeiten des Tieres steigert, so tut es das, um das uns Ähnliche und Verwandte, den Bruder klarer herauszustellen.

Zu dieser kindlichen, unmittelbaren Anschauungsweise muß die weltliche Kultur wieder mehr zurückfinden, sie darf nicht mehr das Tier als außenstehendes Rätsel betrachten und schildern, sondern sie muß sich eins fühlen mit ihm und mit allem Leben, in das alles, was ist, eingegliedert ist nicht nur in einer äußeren, sondern noch weit mehr in einer inneren Geltung. Jene Kette der Dinge, jene Brüderlichkeit des Jenseitigen und Diesseitigen, jene Einheit des Daseins muß wieder geschaut und geachtet werden, von der die indische Hochkultur so weisheitsvoll erfüllt war.

Gewiß gilt das in erster Linie für die höheren Tiere, die gleich uns Liebe und Freundschaft, Treue und Anhänglichkeit, Eltern- und Kindesliebe kennen. Aber auch vor dem kleinsten Käfer, bei dem wir diese Regungen nicht nachweisen können, müssen wir wieder jene Andacht vor allem Leben lernen, jene Achtung vor allem, was atmet, denn auch in ihm und in allem, was ist, lebt eine kleine Welt in der großen. Auch er wandert mühsam die Straße jenes gemeinsamen Daseins, die uns allen vorgezeichnet ist, auch er ist ein Bruder des gleichen Weges, ein Genosse verwandter Freuden und Leiden. All das, was uns die Naturwissenschaft lehrt, ist, mag es noch so interessant sein, ist äußere Beobachtung, nicht mehr. Die Innerlichkeit des Daseins bei Menschen, Tieren und Pflanzen und allem Leben erschließt sich keiner verstandesgemäßen Analyse, sie kann und will allein erahnt werden durch jene Liebe zu allem Sein, wie sie Franziskus von Assisi hatte. ....

Weiter der ganze Text: www.manfredkyber.de



Samstag, 11. Oktober 2008

Nationalökonomie

Angesichts der heutigen Vorgänge auf dem Finanzmarkt ist es empfehlenswert, sich wieder einmal den "Nationalökonomischen Kurs" von Rudolf Steiner vorzunehmen. Was man da findet, lässt erwarten, dass im Wirtschaftsbereich noch einiges zu tun ist.

Wenn Rudolf Steiner hier immer von "Natur" und von "Grund und Boden" spricht, so gilt das in eingeschränktem Maße auch für die auf dem Grund und Boden stehende Immobilie:


Wenn Kapital zu niedrigem Zins für den Kauf von Grund und Boden verliehen wird, dann wird dieser nicht billiger, sondern teuerer...

... In allen Ländern, in denen die Hypothekengesetzgebung dahin geht, dass sich das Kapital mit der Natur (Grund und Boden) verbinden kann, bekommen wir das Stauen des Kapitals...

Statt dass das Kapital verbraucht werde, ...das heißt ... verschwinde, entsteht eine wertbildende Bewegung, die dem volkswirtschaftlichen Prozess schädlich ist...eine der schlimmsten Stauungen im volkswirtschaftlichen Prozess ist diejenige, wo Kapital sich einfach mit der Natur verbindet. ... Je mehr Hypotheken auf etwas lasten, desto teuerer muss es dann bezahlt werden. Es wird fortwährend erhöht der Wert. Ja, ist denn das aber – die Höherwertigkeit von Grund und Boden – ist das eine Wirklichkeit? Es ist ja gar keine Wirklichkeit. .... der Grund und Boden als solcher werterhöht gedacht, ist ein Unding, ein völliges Unding ...(es) ist nicht ein wirklicher Wert, sondern ein Scheinwert. Und darauf kommt es an, dass man auch innerhalb des volkswirtschaftlichen Prozesses endlich begreifen lernt, was wirkliche Werte sind und was Scheinwerte sind.“



"Nationalökonomischer Kurs", Rudolf Steiner, Dornach 28.Juli 1922

GA 340 - S.72 ff


Freitag, 3. Oktober 2008

Großbritanniens ungeschriebene Verfassung

Es birgt immer etwas Problematisches in sich, wenn Verhaltensregeln, Ordnungen oder ähnliches schriftlich niedergelegt werden. Sie werden dann zu einem starren Korsett, das notwendigerweise auch in Fällen anzuwenden ist, wo es vielleicht gar nicht passt. Will man etwas schriftlich niederlegen, so müssen die Formulierungen immer in einer gewissen Allgemeinheit gehalten werden, damit sie nicht zum normativen Zwang werden. Auch sollte man mehr der gemeinsamen Gesinnung Ausdruck verleihen, als konkrete Handlungsanweisungen festlegen.

Legt man Wert auf schriftliche Niederlegungen für Gremien oder Gemeinschaften, so sollte man einfach nur beschreiben, was ist und was schon geschieht. Formuliert man etwas, was man theoretisch will oder fordert – was also noch nicht verwirklicht ist - , dann legt man sich eiserne Bandagen an. Wie sich die Dinge in der Zukunft entwickeln, das kann man vorher nicht wissen. Der schöpferische, menschliche Geist, wird im lebendigen Lebensprozess immer wieder neue Ideen entwickeln und diese verwirklichen wollen. Durch die vorherige Beschreibung und Festlegung entstehen einheitliche, vergangenheitsorientierte Systeme, die den Individuen ihren schriftlich verfassten Willen aufprägen.


In diesem Zusammenhang ist das Beispiel der britischen, nicht niedergeschriebenen „Verfassung“ interessant. Es folgen Zitate aus einem Interview mit dem ehemaligen Außenminister Sir Malcolm Rifkind in der Zeitschrift BRAND EINS vom 10/08, S.144 ff :


„...Wir haben... ungeschriebene Konventionen – oder nennen Sie es Gepflogenheiten. Dies sind allgemein akzeptierte Regeln, die eingehalten werden, obwohl sie nicht die Form von niedergeschriebenen Gesetzen haben...

....Damit unser System funktioniert, muss es einen Grundkonsens innerhalb der politischen Klasse geben, ein Ziel, über das sich alle einig sind.


....unsere Verfassung ist über Jahrhunderte entstanden. Es war nicht nötig, sie aufzuschreiben. Wir wissen genau, was unsere Verfassung ist: Es sind zahlreiche Regeln, die eingehalten werden müssen.


....Aber dafür ist unsere Verfassung flexibel und veränderbar.... Veränderung ist bei uns einfacher als in anderen Ländern. Und das liegt daran, dass wir kein so festes Korsett haben. ... Wenn es in Großbritannien einen Konsens darüber gibt, dass es an der Zeit ist, etwas zu verändern, dann tun wir das einfach. Auch wenn das lange Debatten mit sich bringen kann. Die müssen dann eben geführt werden. Aber in der Praxis ist das sehr simpel. ...


... Unser Unterhaus könnte an jedem Tag im Jahr das schottische Parlament...überstimmen. Aber in den vergangenen Jahren hat sich eine neue Regel durchgesetzt. Nämlich dass das Unterhaus die Entscheidungen der ... Regionalparlamente respektiert.... Und das ist kein Gesetz, sondern eine Gepflogenheit...


... Es ist Teil unserer Verfassung, dass der Premierminister, wenn er eine Vertrauensabstimmung verliert, zurücktreten muss. Das ist nirgendwo niedergeschrieben. ...


...Wir dürfen keine Regeln festzurren, die sich später nur sehr schwer wieder verändern lassen....


... Seit einigen Jahren ist es eine Gepflogenheit, dass bei grundlegenden Entscheidungen ... ein Referendum nötig ist. Das ist wiederum keine gesetzliche Bedingung, aber es ist ein Instrument, das immer öfter zur Anwendung kommt. ...


Was ist für Sie verfassungswidrig?
Dasselbe, was für Sie verfassungswidrig ist: Dinge, die gegen unsere Gesetze, Regeln und Gepflogenheiten verstoßen. ...


Dienstag, 23. September 2008

Synästhesie 2.Teil

Inzwischen habe ich einmal in meiner 4.Klasse nachgefragt, ob Kinder innerlich Farbvorstellungen mit Zahlen verbinden.
Etwa eine drittel bis halbe Klasse meldete sich und berichtete von ihren Farbwahrnehmungen.
Ein Junge meinte, dass er bei bis zu mehreren Hunderten von Zahlen die Farbe nennen könne. Seine Farbcharakterisierung war auch sehr differenziert.
Manche konnten nur wenige Zahlen farbig benennen, viele endeten bei 9 oder 10, manche auch bei 30.
Die Farbcharakterisierungen waren sehr individuell, es gab allerdings auch Überschneidungen.

Eine etwas kleinere Anzahl von Schülern konnte die Zahlen auch innerlich räumlich wahrnehmen und genau sagen, wo sich eine Zahl befände.

Freitag, 12. September 2008

Eine ehemalige Waldorfschülerin erinnert sich

"Ich war froh, ein Mädchen zu sein"
Susanne Eggert - Blond, blauäuig und selbstbewusst im Stuttgart der Nazizeit:
"Ich war arisch, das absolute deutsche Mädel", erinnert sich Susanne Eggert, 83. Zum Nazi-Nachwuchs gehörte sie nicht. Im Vorkriegsjahr 1938 war sie 13. Eine Waldorfschülerin.

Mit den blauen Augen und den blonden, zu einem züchtigen Zopf geflochtenen Haaren sieht Susanne Eggert aus, wie der ideale deutsche Mensch der Zeit auszusehen hatte. Das blondbezopfte, blauäugige Äußere ist eine ideale Tarnkappe. Sie verbirgt das wahre Selbst und schützt die Gedanken und die Person vor dem Zugriff der Nazis. Der Führer hat immer recht, lautete der Spruch, sagt Susanne Eggert. Unabhängigkeit der Gedanken und die Fähigkeit zum selbstständigen Denken sind im Nationalsozialismus, dem geschworenen Feind der Intellektuellen, nicht vorgesehen.


Susanne Eggert wird von zu Hause mit einem "guten Selbstbewusstsein" ausgestattet. Ganz wichtig der Vater. Der zieht als Siebzehnjähriger freiwillig in den Ersten Weltkrieg. Verbittert kehrt er zurück. "Lass dich nicht einfangen. Lass dir nichts vormachen. Sei auf der Hut. Die Buben werden aufgehetzt und im Krieg verheizt. Hitler ist Krieg, sagte der Vater. Ich war froh, ein Mädchen zu sein." Die Mutter, Montessori-Kindergärtnerin, nahezu taub, "war die Liebe persönlich: Sie liebte vorbehaltlos", sagt Susanne Eggert. Als Tochter einer behinderten Mutter aufzuwachsen prägt, zwingt früh zu "absoluter Selbstständigkeit." Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist die beste Ausstattung für das Leben.

Bescheidene materielle Verhältnisse in der Senefelderstraße im Westen von Stuttgart, beim Feuersee. Zehn Reichsmark, eine erhebliche Ermäßigung, zahlt "der freiheitliche Vater" für die Ausbildung der Tochter an der Waldorfschule. Sie erhält ein Stipendium. "Eine Bastion an Freiheit und Unabhängigkeit. Kein Hitlerbild im Klassenzimmer, kein Hitlergruß, keine Fahnenweihe, kein Nazisymbol. Ein Schonraum. Wenn im Radio Hitlerreden übertragen wurden, strömten die anderen Schüler in die Turnhalle - wir nicht." Es gibt heute noch Klassenzusammenkünfte, zwölf Waldorfschüler von damals leben noch.

Die Uhlandshöhe in Stuttgart ist die erste Waldorfschule überhaupt (September 1919). Gründer ist Emil Molt, Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, der den Kindern seiner Arbeiter eine zwölfjährige Ausbildung ermöglichen will.

Mädchen und Jungen werden in einer Klasse unterrichtet. Zum refompädagogischen Programm gehört eine Hilfsklasse für schwerstbehinderte Kinder. Lernschwache, geistig behinderte junge Menschen werden integriert, nicht ausgegrenzt. Karl Schubert aus Wien leitete seit 1920 diese Klasse, an der Neuen Weinsteige in Stuttgart ist eine Schule nach ihm benannt. Das Monatsabo der Straßenbahn vom Feuersee zum Eugensplatz kostet etwa fünf Reichsmark, es gewährt nachmittägliche Mädchenfreiheiten bei innerstädtischen Einkaufsgelegenheiten.

Nach einer Inspektion des Oberschulrats Fromann im November 1933 gilt die Waldorfschule als Fremdkörper im nationalsozialistischen Schulwesen. Der Staat habe die Pflicht, heißt es in seinem Bericht, "diese jungen Volksgenossen, auch entgegen dem Willen der Eltern, aus der Atmosphäre jüdisch-okkulten Geistes zu entfernen". Die Austrocknung der Waldorfschulen in Deutschland begann, bereits angemeldete Schüler der Grundschulklassen sollten laut einem Erlass des Kultusministeriums vom Februar 1934 auf staatliche Schulen verteilt werden. Mitte der dreißiger Jahre durften an der Uhlandshöhe keine neue Schüler mehr aufgenommen werden.

Ab und zu verschwinden Lehrer für ein paar Monate. Wer zurückkommt, erzählt nichts. Wer nicht verschwinden will, hält den Mund. "Es war klar, dass die Nazis schlimme Sachen machen", sagt Susanne Eggert. Sie war damals schon weder blind noch taub.

Im Januar 1938 ist die Zahl der in Stuttgart ansässigen Juden auf weniger als 4000 gesunken, teilt Oberbürgermeister Dr. Strölin erfreut mit. 1938 erhalten jüdische Rechtsanwälte Berufsverbot. Im November werden die Synagogen in Stuttgart und Cannstatt wie überall im Land amtlicherseits abgebrannt. Zur gleichen Zeit singt voluminös die Nazi-Muse Zarah Leander "Der Wind hat mir ein Lied erzählt", und der nie erwachsene Heinz Rühmann behauptet frech, "Ich brech' die Herzen der stolzesten Frau'n".

1938 werden die Waldorfschulen in Deutschland aufgelöst. Karl Schubert unterrichtet seine Hilfsklasse in einem Privathaus in der Schellbergstraße. Susanne Eggert steht die Umschulung bevor. Nur als Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM) ist es möglich, von der Waldorfschule in eine staatliche Schule zu wechseln. Sie ist eine gute Schülerin. Sie wird eine Klasse tiefer eingestuft, setzt sich aber durch und besteht die gleiche Klasse in der Staatsschule. Das Königin-Olga-Stift ist im Vergleich zu anderen Schulen ein tolerantes Institut.

Susanne Eggert erzählt unsentimental, klug. Das Alter schmälert Eleganz, Charme und Deutlichkeit im Ausdruck nicht. Betrügt die Erinnerung? "Ich verkläre nicht", sagt sie. Mit 23 - 1948 - ist sie die jüngste Ärztin Deutschlands. Als Dr. med. Psychotherapie und Psychiatrie setzt sie die fortschrittliche Idee einer Klinik der offenen Tür in Stuttgart durch. Auch ohne Schminke hat sie es geschafft, sagt sie. Mit etwas Glück. Mit Verstand und Willen. Sie hatte keine Angst. Ein geliebtes Kind.

Jürgen Holwein, StN

15.02.2008 - aktualisiert: 15.02.2008 17:23 Uhr