Dienstag, 21. April 2009

Fürchtet euch nicht, wir (Chinesen) sind bei euch

Vorbemerkung: Zu den weltpolitisch und welthistorisch bedeutsamsten Vorgängen unserer Epoche gehören die Entwicklungen in China und ihre Auswirkungen auf den Westen. Zu diesem Thema wird es in nächster Zeit verschiedene Beiträge auf diesen Seiten geben. Im Überblick können Sie dann immer alle Artikel lesen, wenn Sie das Thema (label oder tag) "China" wählen.

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Eine buchstäblich alte Welt, versunken im Kulturpessimismus: So sieht China Europa. Die Ironie der Geschichte will, dass heute die Chinesen als Missionare auftreten und den Europäern ihre Angst vor der Globalisierung nehmen wollen.

PEKING, 8. März

In der Wirtschaftskrise verschieben sich die globalen Kurse rascher als in ruhigen Zeiten. Wie viel ist heute zum Beispiel Europa wert? Dass sich China in den letzten Wochen auffällig um den alten Kontinent bemüht, kann Verschiedenes bedeuten. In diesen Tagen begann schon die zweite große Einkaufstour chinesischer Investoren, nachdem Ministerpräsident Wen Jiabao zuvor in mehreren europäischen Ländern über die Auswirkungen der Krise gesprochen hatte. Die letzte Delegationsreise hatte deutschen Unternehmen allein Lieferverträge im Wert von rund zehn Milliarden Dollar eingebracht, jetzt soll es um Fusionen und Übernahmen im großen Stil gehen, unter anderem um Volvo. Die Preise sind günstiger geworden in diesen Tagen.

Aber eine gerade veröffentlichte Studie der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften über Europa legt den Schluss nahe, dass es Peking nicht bloß um ein Kostenkalkül geht. Es geht ihm, alteuropäisch gesprochen, um die Seele des Kontinents....


„Viele Europäer“, heißt es in dem Papier, „spüren den Druck, den das Erstarken Chinas ausübt, am eigenen Leib.“ Es wachse die Sorge um die eigene Konkurrenzfähigkeit. ...

Deutschland sei nicht in der Lage, die Vorteile wahrzunehmen, die China ihm und der Welt schon gebracht habe.

...

Vor dem Hintergrund dieser Analyse erscheinen Chinas Bemühungen um Europa in einem größeren Zusammenhang. Wen Jiabao hatte seine Reise zu einer „Tour der Zuversicht“ erklärt, und der Handelsminister Chen Deming interpretierte seine Einkaufstour als Bekenntnis für die Freiheit der Märkte und gegen den Protektionismus. Es sieht so aus, als habe sich China inmitten der Krise eine neue Rolle verordnet: den Auftrag, die Alte Welt von ihrem Pessimismus zu heilen, indem es sie am Schwung seiner trotz allem fortdauernden Aufwärtsbewegung Anteil nehmen lässt. Denn nur wenn Europa seine Globalisierungsfurcht verliert, so mag das Kalkül sein, werden sich seine Vorbehalte gegenüber China legen. Aus Pekinger Sicht würde sich die geläufige Rollenverteilung dadurch geradewegs umkehren: Einem in sich verschlossenen Europa würde plötzlich ein Verkündiger von Öffnung, Rationalität und Markt gegenüberstehen, mit dem niemand gerechnet hätte.

... Denn im gleichen Zug, wie China beim Geschäftemachen Europa die Angst vor der Globalisierung nehmen will, stärkt es seinen eigenen Einfluss in den globalen Beziehungen und Institutionen. Das Gesunden der Weltwirtschaft, erklärte Wen Jiabao in Davos, hänge von der engen Zusammenarbeit der Welt mit China ab. ...

Die Karten werden neu gemischt. Mit der Relativierung der amerikanischen Machtposition sehen chinesische Kommentatoren, etwa in der Parteizeitung „Renmin Ribao“, zum ersten Mal in der Geschichte ein Zeitalter des „globalen multikulturellen und multipolaren Wettbewerbs“ aufziehen, eine Ära der Zusammenarbeit statt der Konfrontation. ...


Die Zusammenarbeit, von der China spricht, dürfte allen noch einiges abverlangen.


MARK SIEMONS

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.03.2009 Seite 25

Quelle:http://www.faz.net/