Samstag, 17. Mai 2008

Simone Weil - Geist- Erfahrung

In einem ihrer letzten Briefe schrieb Simone Weil:

"Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzugehen, so wird man keine weite Strecke wandern, ohne in seine Arme zu stürzen. Danach habe ich empfunden, dass Plato ein Mystiker ist, dass die ganze "Ilias" von christlichem Licht durchflutet ist und dass Dionysos und Osiris in gewisser Weise Christus selber sind; und meine Liebe wurde hierdurch verdoppelt. (...) Im Frühjahr 1940 las ich die "Bhagavad-Gita". Seltsam, als ich diese wunderbaren Worte von einem derart christlichen Klange las, die einer Inkarnation Gottes in den Mund gelegt werden, da geschah es, dass mich das kräftige Gefühl überkam, dass wir der religiösen Wahrheit sehr viel mehr schulden als die Zustimmung, die man einer schönen Dichtung gewährt, eine Zustimmung von sehr viel kategorischerer Art. (...)

Die Kraft dieser Übung ist außerordentlich und überrascht mich jedes Mal, denn, obgleich ich sie jeden Tag erfahre, übertrifft sie jedes Mal meine Erwartung. Mitunter reissen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raums, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt. Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal auch dritten Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, mit einem Schweigen, das nicht die Abwesenheit des Klanges ist, sondern das der Gegenstand einer positiven Empfindung ist, sehr viel positiver als die eines Klanges. Die Geräusche, wenn deren da sind, erreichen mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurch gegangen sind. Mitunter auch ist während dieses Sprechens oder zu anderen Augenblicken Christus in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erstes Mal, da er mich ergriffen hat."