Montag, 31. Januar 2011

Wer die Wahl hat, hat die Qual...

Klarer Denken
Warum Sie nie glauben sollten, Sie könnten die perfekte Wahl treffen
Von Rolf Dobelli

Meine Schwester und ihr Mann haben eine Wohnung im Rohbau gekauft. Seither können wir nicht mehr normal miteinander plaudern. Seit zwei Monaten dreht sich alles nur noch um die Kacheln fürs Badezimmer. Keramik, Granit, Marmor, Metall, Kunststein, Holz, Glas und Laminat in allen Spielarten stehen zur Auswahl. Noch selten habe ich meine Schwester in einer solchen Qual erlebt. „Die Auswahl ist einfach zu groß!“, sagt sie, ringt die Hände und wendet sich wieder dem Katalog der Plattenmuster zu, ihrem ständigen Begleiter.

Ich habe nachgezählt und nachgefragt. Das Lebensmittelgeschäft in meiner Nachbarschaft bietet 48 Sorten Joghurt, 134 verschiedene Rotweine, 64 Arten von Reinigungsprodukten, insgesamt etwa 30 000 Artikel. Bei Amazon sind zwei Millionen Buchtitel lieferbar. Dem heutigen Menschen stehen über fünfhundert psychische Krankheitsbilder, tausend verschiedene Berufe, fünftausend Feriendestinationen und eine unendliche Vielfalt an Lebensstilen zur Verfügung. Mehr Auswahl war nie.

Als ich klein war, gab es bei uns zu Hause drei Arten von Joghurt, drei Fernsehkanäle, zwei Kirchen, zwei Sorten Käse (Tilsiter scharf oder mild), eine Sorte Fisch (Forelle) und eine Art von Telefonapparat – von der Schweizerischen Post zur Verfügung gestellt. Der schwarze Kasten mit der Wählscheibe konnte nichts anderes als telefonieren, und das reichte damals völlig. Wer heute einen Handy-Laden betritt, droht in einer Lawine an Handymodellen und Tarifvereinbarungen zu ersticken.

Und doch: Auswahl ist die Messlatte des Fortschritts. Auswahl ist, was uns von der Planwirtschaft und der Steinzeit unterscheidet. Ja: Auswahl macht glücklich. Es gibt allerdings eine Grenze, bei der zusätzliche Auswahl Lebensqualität vernichtet. Der Fachbegriff dafür lautet The Paradox of Choice. Auf Deutsch etwa: Das Auswahl-Paradox.

In seinem Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit“ beschreibt der amerikanische Psychologe Barry Schwartz, warum das so ist. Er nennt drei Gründe. Erstens: Große Auswahl führt zu innerer Lähmung. Ein Supermarkt stellte 24 Sorten Konfitüre zum Probieren auf. Die Kunden konnten nach Belieben degustieren und die Produkte mit Rabatt kaufen. Am folgenden Tag führte der Supermarkt dasselbe Experiment mit nur sechs Sorten durch. Das Ergebnis? Es wurde zehn Mal mehr Konfitüre verkauft als am ersten Tag. Warum? Bei einem großen Angebot kann sich der Kunde nicht entscheiden, und so kauft er gar nichts. Der Versuch wurde mehrmals mit verschiedenen Produkten wiederholt, das Resultat war stets dasselbe.

Zweitens: Große Auswahl führt zu schlechteren Entscheidungen. Fragt man junge Menschen, was ihnen an einem Lebenspartner wichtig ist, zählen sie all die ehrenwerten Eigenschaften auf: Intelligenz, gute Umgangsformen, ein warmes Herz, die Fähigkeit zuzuhören, Humor und physische Attraktivität. Aber werden diese Kriterien bei der Auswahl wirklich berücksichtigt? Während früher in einem Dorf durchschnittlicher Größe für einen jungen Mann etwa zwanzig potentielle Frauen in derselben Altersklasse zur Auswahl standen, die er zumeist schon aus der Schule kannte und entsprechend einschätzen konnte, stehen heute, im Zeitalter des Online-Dating, Millionen potentieller Partnerinnen zur Verfügung. Der Auswahlstress ist so groß, dass das männliche Hirn die Komplexität auf ein einziges Kriterium schrumpft – und das ist, empirisch nachweislich, die „physische Attraktivität“.

Drittens: Große Auswahl führt zu Unzufriedenheit. Wie können Sie sicher sein, dass Sie aus zweihundert Optionen die perfekte Wahl getroffen haben? Antwort: Sie können es nicht. Je mehr Auswahl Sie haben, desto unsicherer und damit unzufriedener sind Sie nach der Wahl.

Was tun? Überlegen Sie genau, was Sie wollen, bevor Sie die bestehenden Angebote mustern. Schreiben Sie Ihre Kriterien auf, und halten Sie sich unbedingt daran. Und rechnen Sie damit, dass Sie nie die perfekte Wahl treffen. Maximieren ist – angesichts der Flut an Möglichkeiten – irrationaler Perfektionismus. Geben Sie sich mit einer „guten Lösung“ zufrieden. Ja, auch in puncto Lebenspartner. Nur das Beste ist gut genug? Im Zeitalter unbeschränkter Auswahl gilt eher das Gegenteil: „Gut genug“ ist das Beste.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.01.2011 Seite 27