Freitag, 21. Januar 2011

Und Sie ? Haben Sie ihr Leben im Griff?

Klarer Denken
Weshalb Sie viel weniger unter Kontrolle haben, als Sie denken
Von Rolf Dobelli

Jeden Tag, kurz vor neun Uhr, stellt sich ein Mann mit einer roten Mütze auf einen Platz und beginnt, die Mütze wild hin und her zu schwenken. Nach fünf Minuten verschwindet er wieder. Eines Tages tritt ein Polizist vor ihn: „Was tun Sie da eigentlich?“ „Ich vertreibe die Giraffen.“ „Es gibt keine Giraffen hier.“ „Tja, ich mache eben einen guten Job.“

Ein Freund. mit Beinbruch ans Bett gefesselt, bat mich, für ihn einen Lottoschein zu kaufen. Ich kreuzte sieben Zahlen an und schrieb seinen Namen drauf. Als ich ihm den Lottozettels überreichte, sagte er unwirsch: „Warum hast du den Zettel ausgefüllt? Ich wollte ihn ausfüllen. Mit deinen Zahlen werde ich bestimmt nichts gewinnen!“ „Denkst du wirklich, du kannst die Kugeln durch dein eigenhändiges Ankreuzen beeinflussen?“, fragte ich. Er schaute mich verständnislos an.

Im Casino werfen die meisten Menschen die Würfel möglichst kraftvoll, wenn sie eine hohe Zahl brauchen, und möglichst sanft, wenn sie auf eine tiefe hoffen. Was natürlich ebenso Unsinn ist wie die Hand- und Fussbewegungen von Fussballfans, die tun, als könnten sie selbst ins Spiel eingreifen. Diese Illusion teilen sie mit vielen Menschen: Sie wollen die Welt beeinflussen, indem sie gute Gedanken (Schwingungen, Energie, Karma) verschicken.

Die Kontrollillusion ist die Tendenz, zu glauben, dass wir etwas kontrollieren oder beeinflussen können, über das wir objektiv keine Macht haben. Entdeckt wurde sie 1965 von den beiden Forschern Jenkins und Ward. Die Versuchsanordnung war einfach: zwei Schalter und ein Licht, das entweder an oder aus war. Jenkins und Ward konnten einstellen, wie stark die Schalter und das Licht miteinander korrelierten. Selbst in den Fällen, in denen das Lampenlicht vollkommen zufällig an- oder ausging, waren die Versuchsteilnehmer überzeugt, durch das Drücken der Schalter das Licht irgendwie beeinflussen zu können.

Ein amerikanischer Wissenschaftler hat die akustische Schmerzempfindlichkeit untersucht, in dem er Menschen in einen Schallraum einschloss und den Lautstärkepegel kontinuierlich erhöhte, bis die Probanden abwinkten. Es standen zwei identische Schallräume A und B zur Verfügung – mit einem Unterschied: Raum B hatte einen roten Panik-Knopf an der Wand. Das Ergebnis? Menschen im Raum B ertrugen deutlich mehr Lärm. Der Witz war, dass der Panik-Knopf nicht einmal funktionierte. Die Illusion allein genügte, um die Schmerzgrenze zu heben. Wenn Sie Alexander Solschenizyn, Victor Frankl oder Primo Levi gelesen haben, dürfte Sie dieses Ergebnis nicht überraschen. Die Illusion, dass man das eigene Schicksal doch ein klein wenig beeinflussen kann, ließ diese Gefangenen jeden Tag von neuem überleben.

Wer als Fußgänger in Manhattan die Straße überqueren will und auf den Knopf der Ampel drückt, drückt auf einen Knopf ohne Funktion. Warum gibt es ihn dann überhaupt? Um die Fussgänger glauben zu machen, sie hätten einen Einfluss auf die Signalsteuerung. So ertragen sie die Warterei vor der Ampel nachweislich besser. Dasselbe gilt für die „Tür auf/Tür zu“-Knöpfe in vielen Aufzügen, die nicht mit der Liftsteuerung verbunden sind. Die Wissenschaft nennt sie „Placebo-Knöpfe“. Oder nehmen Sie die Temperaturregulierung in Grossraumbüros: Den einen ist es zu heiss, den anderen zu kalt. Clevere Techniker machen sich die Kontrollillusion zu Nutze, indem sie auf jeder Etage einen funktionslosen Temperaturregulierungsknopf anbringen. Die Anzahl der Reklamationen geht damit deutlich zurück.

Notenbanker und Wirtschaftsminister spielen auf einer ganzen Klaviatur von Placebo-Knöpfen. Dass die Knöpfe nicht funktionieren, sieht man seit zwanzig Jahren in Japan und seit drei Jahren in den Vereinigten Staaten. Und doch lassen wir den Wirtschaftslenkern die Illusion – und sie uns. Es wäre für alle Beteiligten unerträglich, sich einzugestehen, dass die Weltwirtschaft ein grundsätzlich unsteuerbares System ist.

Und Sie? Haben Sie Ihr Leben im Griff? Wahrscheinlich weniger, als Sie denken. Glauben Sie nicht, Sie seien ein stoisch-kontrollierter Marc Aurel. Wahrscheinlich ähneln Sie eher dem Mann mit der roten Mütze. Deshalb: Konzentrieren Sie sich auf die wenigen Dinge, die Sie wirklich beeinflussen können – und von denen wiederum konsequent nur auf die wichtigsten. Alles andere lassen Sie einfach geschehen.
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Der Schriftsteller Rolf Dobelli, Jahrgang 1966, ist Gründer und Kurator des Forums „Zurich .Minds“. Im Herbst erschien sein Roman „Massimo Marini“.


Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.12.2010 Seite 28