Montag, 13. Juli 2009

Handeln heißt leben

Jean-Marie Guyau

1854 - 1888

Auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe stehen gebliebene Geschöpfe betätigen sich nur in wenigen bestimmten Richtungen; dann ruhen sie sich aus, vergeuden ihre Kraft in absoluter Untätigkeit, wie z.B. der Jagdhund, der bis zu dem Augenblick der Jagd schläft. Die höheren Wesen dagegen erholen sich durch die Verschiedenheit der Arbeit, wie ein Feld sich ausruht durch die Fruchtfolge. Das Ziel, das man bei einer bewussten Regelung der menschlichen Aktivität verfolgen muss, besteht also in der äußersten Beschränkung der Perioden der Brache auf das Notwendige. Handeln heißt leben; mehr handeln, heißt das innere Leben steigern. Von diesem Gesichtspunkte aus sind Untätigkeit und Trägheit die schlimmsten Laster; das sittliche Ideal muss Tätigkeit in all der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen sein, wenigstens der Formen, die sich nicht gegenseitig aufheben, oder die nicht einen dauernden Kraftverlust hervorbringen.

aus: Sittlichkeit ohne Pflicht (1885)