Samstag, 10. Januar 2009

"Die Waldlichtung" - Imre Makovecz

Wir nennen es eine Waldlichtung, eine Lichtung im Wald. Warum wachsen gerade an diesem Ort weder Busch noch Baum? Vielleicht weil der Boden anders ist, der Grundwasserspiegel etwas höher steht? Mag sein. Ich allerdings glaube, dass da, wo heute keine Bäume wachsen, vor sehr langer Zeit etwas geschehen ist. Doch ist es schon so lange her, dass sich niemand mehr daran erinnern kann. Außer vielleicht die Bäume. Wenn ich am Rande einer solchen Lichtung stehe, unter den vordersten Bäumen oder auch ein wenig weiter hinten, so scheint es mir, als würden die Bäume auf diesen Fleck herabschauen. Eine Lichtung hat einen anderen Klang als der Wald, sie spricht in ihrer eigenen Sprache. Sie ist wärmer, denn sie wird von der Sonne beschienen. Andere Insekten fliegen und kriechen umher. Die Wärme steigt weit über die Lichtung hinauf, selbst die Stille tönt anders. Dieses hören die Bäume außerhalb der Zeit beziehungsweise in ihrer Zeit, die aus der Beziehung zwischen der wärmenden Sonne und den Mineralien lebt.

Erschütternd ist ihr Trieb, in einer derart fremden Welt zu überleben, sich zu erinnern, etwas zu sehen und zu überliefern. Ihre Welt ging unter, als ihre gewaltigen Urahnen, die hoheitsvollen Weisen der Huronen,, eines rätselhaften Sündenfalles wegen zu Kohle und Öl wurden. Ich wage es nicht, mir eine Vorstellung von der Größe dieser Urbäume zu machen oder von deren Rede oder Taten. Ihre Nachkommen aber stehen einfach da. Sie umgeben einen Ort, dessen Geheimnis sie genauso wenig verstehen wie wir. Jahr für Jahr gleiten ihre von Propellerchen getragenen Samen wie winzige Feen auf die Lichtung herab, doch keiner der zarten Keime fängt zu sprießen an. Die Bäume rühren nicht an das, was einst hier geschah.

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Doch die Zeit der Wandlung wird kommen. Einer von uns wird sich in die Mitte des Kreises stellen und das Lied anstimmen, in das der ganze Wald behutsam und ernst einstimmen wird. Und dann werden sich Grund und Sinn dieses langen Schweigens offenbaren.

Wenn ich nachträglich noch einmal lese, was ich gerade geschrieben habe, bedauere ich es zutiefst, dass ich über diese Dinge nur in derart pathetischer, nichtssagender Sprache schreiben kann. Dabei bemühe ich mich stets darum, aufmerksam und präzise zu sein und nur das niederzuschreiben, was ich tatsächlich gesehen habe oder was sich mir sichtbar gemacht hat.

Immer noch verspüre ich das Verlangen, geheimnisvolle Orte zu schaffen. Mit solchen Orten möchte ich einerseits an Vergangenes erinnern, andererseits Neues provozieren. Ich möchte die Menschen, die Erde und ihre Lebewesen dazu bringen, sich zu offenbaren und das Wissen zu erkennen, welches die unumgängliche Vielfalt der Lebewesen birgt. Ich glaube, dass wir Menschen an sich alle dasselbe denken, auch wenn wir es bis zur Unverständlichkeit zerreden. Auf dieser Welt gibt es Wesen mit auf den Rücken gefalteten Armen, die nicht greifen können,jedoch fliegen. Andere Wesen wiederum werden mächtig und voll von Erdschwere, ihre Glieder sind dick wie Säulen und ihre Finger schwellen unter dem gewaltigen Gewicht an, sodass sie nicht zum Greifen taugen. Doch diese Wesen sind weise, sie verlängern ihre Nasen und greifen damit so, wie kein anderes Lebewesen. Ich glaube, dass die Welt die Ursache all dieser Vielfalt und Fremdheit in sich trägt ‑ und damit auch die Möglichkeit, sie zu verstehen. Ich meine, dass in den Formen der Natur. In der Anordnung der Berge etwas liegt, das uns anzieht wie die Erinnerung an eine uralte Stadt. ...

Wie gut sich doch die Pappel, diese lebendige Säule, zur Markierung besonderer Orte eignet! Stürmisch wächst sie in die Höhe, und allein schon ihre Springbrunnenform kann für die Menschen ein Zeichen sein.

Ich vermute, dass meine mit unbehauenen Baum-Säulen gebauten Häuser die Architektur als solche schließlich sinnlos machen werden. Setzte der Mensch einfach Dächer aus natürlichem Material auf geeignete Baumgruppen, so würde der Baum zum Gehilfen des Menschen wie einst das Pferd. Aus gegenseitigem Vertrauen und und gegenseitiger Achtung entstand in jener Zeit zwischen Pferd und Mensch ein tiefes gemeinsames Wissen ... Der Baum in der Architektur könnte tatsächlich den Weg zu neuen Erkenntnissen weisen, zu einem gemeinsamen Wissen zwischen Baum und Mensch. Die echten, alten Obstgärten mit ihren ... nicht für die Massenproduktion geeigneten Obstsorten sind nämlich im Aussterben begriffen. Doch im Komitat Zala gibt es noch ein paar wahre alte Obstgärten. Lasst es euch nicht entgehen, einmal einen Tag in einem dieser alten Obstgärten zu verbringen! Und besucht dann zum Vergleichen eine Obstplantage in Nyirseg. Ihr werdet merken, dass am einen Ort Gruppen eigenständiger Individuen leben, am anderen dagegen Heerscharen von unselbstständigen Gnomen in Reih und Glied stehen, das im 19. Jahrhundert verelendete Proletariat.
Im Namen der Natur rufe ich euch zu: Seht ihr denn nicht, dass unter dem Deckmantel "sozialistischer Prinzipien" ein Teufelskreis um euch gezeichnet wird, der alles zerstört? Nehmt etwa die Pflanzenschutzmittel! Seht ihr denn nicht die Millionen von sterbenden und wildflüchtenden Insekten? Doch genug damit. Schon höre ich die überheblichen Angriffe gegen das "Prophetentum".

Auf der Suche nach geheimnisvollen lebendigen Orten bin ich im vulkanischen Gebirge oberhalb von Särospatak auf einen kleinen See gestoßen, der nur über einen schmalen Pfad zu erreichen ist. Seerosen blühen dort und senkrechte weiße Felswände spiegeln sich im stehenden Wasser. Ein anderer solcher Ort ist der von grauen Felsen umgebene Hügel, auf dem ich einst eine Schutzhütte errichten wollte. Der große Nussbaum vor dem Keller des Jöska Kiss versank eines Morgens in der Erde, weil ein unterirdischer Gang eingebrochen war. Auch solches muss bedenken, wer für den Sarospataker baut.

Wir sollten uns beim Erkunden darum bemühen, Fuß und Auge von der Umgebung und nicht vom Kopf lenken zu lassen. Wir dürfen uns nicht unseren Fantasiebildern hingeben, sondern müssen wie ein Geigerzähler mit erhöhter Aufmerksamkeit und Sensibilität alle Schwingungen auf nehmen, damit alles, die geologischen und die atmosphärischen Gegebenheiten wie auch der allzu schöne oder künstliche Wuchs der Bäume, gleichzeitig in uns erklingen kann. Wir sollten auch darauf achten, wo früher Bauten standen und wohin alte Pfade führen. Denn alles flüstert uns Geheimnisse zu, will von uns verstanden werden. Lange schon leidet die Welt unter unserem Unverständnis. Alles ist uns Menschen anvertraut, alles ist für uns da. Halb Tier, halb Engel sucht der Mensch nicht umsonst die Orte der Natur. Es gibt sie nämlich tatsächlich! Mit diesen auf besondere Weise harmonischen Orten ermöglicht es uns die Natur, aus der Zeit herauszutreten. Hier können wir die wahre Zukunft erahnen. An solchen Orten kann es uns gelingen, mit der Unterstützung der hilfreichen Aufmerksamkeit der Wache stehenden Bäume zu einer intuitiven Erkenntnis in Bezug auf die Möglichkeiten und Ziele der menschlichen Zivilisation -und damit auch des Architekten ‑zu gelangen.



a.a.O. Seite 138 f - Imre Makovecz, 1984