Freitag, 12. September 2008

Eine ehemalige Waldorfschülerin erinnert sich

"Ich war froh, ein Mädchen zu sein"
Susanne Eggert - Blond, blauäuig und selbstbewusst im Stuttgart der Nazizeit:
"Ich war arisch, das absolute deutsche Mädel", erinnert sich Susanne Eggert, 83. Zum Nazi-Nachwuchs gehörte sie nicht. Im Vorkriegsjahr 1938 war sie 13. Eine Waldorfschülerin.

Mit den blauen Augen und den blonden, zu einem züchtigen Zopf geflochtenen Haaren sieht Susanne Eggert aus, wie der ideale deutsche Mensch der Zeit auszusehen hatte. Das blondbezopfte, blauäugige Äußere ist eine ideale Tarnkappe. Sie verbirgt das wahre Selbst und schützt die Gedanken und die Person vor dem Zugriff der Nazis. Der Führer hat immer recht, lautete der Spruch, sagt Susanne Eggert. Unabhängigkeit der Gedanken und die Fähigkeit zum selbstständigen Denken sind im Nationalsozialismus, dem geschworenen Feind der Intellektuellen, nicht vorgesehen.


Susanne Eggert wird von zu Hause mit einem "guten Selbstbewusstsein" ausgestattet. Ganz wichtig der Vater. Der zieht als Siebzehnjähriger freiwillig in den Ersten Weltkrieg. Verbittert kehrt er zurück. "Lass dich nicht einfangen. Lass dir nichts vormachen. Sei auf der Hut. Die Buben werden aufgehetzt und im Krieg verheizt. Hitler ist Krieg, sagte der Vater. Ich war froh, ein Mädchen zu sein." Die Mutter, Montessori-Kindergärtnerin, nahezu taub, "war die Liebe persönlich: Sie liebte vorbehaltlos", sagt Susanne Eggert. Als Tochter einer behinderten Mutter aufzuwachsen prägt, zwingt früh zu "absoluter Selbstständigkeit." Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist die beste Ausstattung für das Leben.

Bescheidene materielle Verhältnisse in der Senefelderstraße im Westen von Stuttgart, beim Feuersee. Zehn Reichsmark, eine erhebliche Ermäßigung, zahlt "der freiheitliche Vater" für die Ausbildung der Tochter an der Waldorfschule. Sie erhält ein Stipendium. "Eine Bastion an Freiheit und Unabhängigkeit. Kein Hitlerbild im Klassenzimmer, kein Hitlergruß, keine Fahnenweihe, kein Nazisymbol. Ein Schonraum. Wenn im Radio Hitlerreden übertragen wurden, strömten die anderen Schüler in die Turnhalle - wir nicht." Es gibt heute noch Klassenzusammenkünfte, zwölf Waldorfschüler von damals leben noch.

Die Uhlandshöhe in Stuttgart ist die erste Waldorfschule überhaupt (September 1919). Gründer ist Emil Molt, Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, der den Kindern seiner Arbeiter eine zwölfjährige Ausbildung ermöglichen will.

Mädchen und Jungen werden in einer Klasse unterrichtet. Zum refompädagogischen Programm gehört eine Hilfsklasse für schwerstbehinderte Kinder. Lernschwache, geistig behinderte junge Menschen werden integriert, nicht ausgegrenzt. Karl Schubert aus Wien leitete seit 1920 diese Klasse, an der Neuen Weinsteige in Stuttgart ist eine Schule nach ihm benannt. Das Monatsabo der Straßenbahn vom Feuersee zum Eugensplatz kostet etwa fünf Reichsmark, es gewährt nachmittägliche Mädchenfreiheiten bei innerstädtischen Einkaufsgelegenheiten.

Nach einer Inspektion des Oberschulrats Fromann im November 1933 gilt die Waldorfschule als Fremdkörper im nationalsozialistischen Schulwesen. Der Staat habe die Pflicht, heißt es in seinem Bericht, "diese jungen Volksgenossen, auch entgegen dem Willen der Eltern, aus der Atmosphäre jüdisch-okkulten Geistes zu entfernen". Die Austrocknung der Waldorfschulen in Deutschland begann, bereits angemeldete Schüler der Grundschulklassen sollten laut einem Erlass des Kultusministeriums vom Februar 1934 auf staatliche Schulen verteilt werden. Mitte der dreißiger Jahre durften an der Uhlandshöhe keine neue Schüler mehr aufgenommen werden.

Ab und zu verschwinden Lehrer für ein paar Monate. Wer zurückkommt, erzählt nichts. Wer nicht verschwinden will, hält den Mund. "Es war klar, dass die Nazis schlimme Sachen machen", sagt Susanne Eggert. Sie war damals schon weder blind noch taub.

Im Januar 1938 ist die Zahl der in Stuttgart ansässigen Juden auf weniger als 4000 gesunken, teilt Oberbürgermeister Dr. Strölin erfreut mit. 1938 erhalten jüdische Rechtsanwälte Berufsverbot. Im November werden die Synagogen in Stuttgart und Cannstatt wie überall im Land amtlicherseits abgebrannt. Zur gleichen Zeit singt voluminös die Nazi-Muse Zarah Leander "Der Wind hat mir ein Lied erzählt", und der nie erwachsene Heinz Rühmann behauptet frech, "Ich brech' die Herzen der stolzesten Frau'n".

1938 werden die Waldorfschulen in Deutschland aufgelöst. Karl Schubert unterrichtet seine Hilfsklasse in einem Privathaus in der Schellbergstraße. Susanne Eggert steht die Umschulung bevor. Nur als Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM) ist es möglich, von der Waldorfschule in eine staatliche Schule zu wechseln. Sie ist eine gute Schülerin. Sie wird eine Klasse tiefer eingestuft, setzt sich aber durch und besteht die gleiche Klasse in der Staatsschule. Das Königin-Olga-Stift ist im Vergleich zu anderen Schulen ein tolerantes Institut.

Susanne Eggert erzählt unsentimental, klug. Das Alter schmälert Eleganz, Charme und Deutlichkeit im Ausdruck nicht. Betrügt die Erinnerung? "Ich verkläre nicht", sagt sie. Mit 23 - 1948 - ist sie die jüngste Ärztin Deutschlands. Als Dr. med. Psychotherapie und Psychiatrie setzt sie die fortschrittliche Idee einer Klinik der offenen Tür in Stuttgart durch. Auch ohne Schminke hat sie es geschafft, sagt sie. Mit etwas Glück. Mit Verstand und Willen. Sie hatte keine Angst. Ein geliebtes Kind.

Jürgen Holwein, StN

15.02.2008 - aktualisiert: 15.02.2008 17:23 Uhr