Sonntag, 12. Juni 2011

Der Kuckuck - Bild der menschlichen Individualität

"Alles Vergängliche, Ist nur ein Gleichnis..."

Sicher hat das Phänomen Kuckuck schon viele Menschen so bewegt, wie mich. Wie kann es die Natur zulassen, dass ein Wesen seine Eier in fremde Nester legt, dass das geschlüpfte Kuckuckskücken die kleinen rechtmäßig, im Erbstrom des eigentlichen Vogelpaares geborenen Jungen schließlich aus dem Nest wirft, tötet, ermordet, um selber Raum für seine eigene Existenz zu haben. Es macht sich breit und die armen Eltern müssen es füttern und füttern; das Kuckucksjunge wächst Ihnen über den Kopf. Es ist ihnen ganz fremd, es fliegt schließlich ohne Dank davon.



Ist das die Moral der Natur? Irgendwie hat mich das immer bewegt.

Doch die Natur kennt keine Moral. Sie ist immer gut und böse zugleich. In ihr hebt sich alles auf. Der Mensch mag es auslegen, wie er will. Sie erstrebt auch keine moralischen Ziele. Es führt immer in die Irre, wenn man menschliche Moralvorstellungen auf die Natur überträgt.

Alle Vorgänge in der Natur sind Bilder, sind Gleichnisse, die irgendetwas mit dem Menschen zu tun haben.

Wenn ein Kind geboren wird, dann erbt es seinen Leib von seinen Eltern. Im ersten Jahrsiebt, macht es nun diesen Leib zu seinem eigenen. Es wirft gewissermaßen die gesamte Erbsubstanz der Eltern hinaus. Wirksam ist nun das eigene Ich, es baut an seinem neuen Leib. Dieses Kinder-Ich, es ist den Eltern fremd. Es hat eine ganz andere Abstammung. Es kommt von weit her, es kommt aus der geistigen Welt. Dieses Ich hat mit dem leiblichen Vererbungsstrom nichts zu tun. Und dennoch fördern, ernähren, pflegen die Eltern in ihrer unermesslichen Liebe dieses Wesen, das ihnen in Wahrheit fremd ist, das ihnen dann einst über den Kopf wachsen wird, das sie verlassen wird. 
So muss es sein. Das ist Ausdruck unserer heutigen Zeit. Man darf nicht im Vererbungsstrom verhaftet bleiben. Es ist der Weg in die Freiheit.

Kuckuck mit Teichrohrsänger
Das Leben des Kuckuck ist dafür ein geistige Bild. 
Man lausche auf den sonderbaren Ruf des Kuckucks. Was drückt er aus, was will er sagen, wenn er so von weither ruft, ohne dass man ihn sieht? Und man spürt ganz deutlich, das ist kein normaler Vogelton, kein Zwitschern oder Singen, es ist eine Sprache, eben ein richtiger Ruf, ein Appell für den Menschen.

Man stelle sich ein kleines Kind vor, das sich versteckt und dann aus seinem Versteck heraus, dem Suchenden zuruft, Kuckuck, hier bin ich, suche mich. So ruft uns die Kindesseele immer zu: Ich bin ein Ich, du kennst mich noch nicht, ich bin versteckt, aber ich bin doch schon ganz da. Erwachsener, suche mich, erkenne mich!


Dazu fiel mir dieser wunderbare Text von Khalil Gibran ein:

„Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, 
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern....

Khalil Gibran, arabischer Dichter, 1883-1931“ 

Wie kam ich zu diesem Wahrbild des Kuckucks? Vor kurzem hielt ich einen Seminarkurs in einem Waldorflehrerseminar und versuchte den Seminaristen das Leib-Umwandlungs-Phänomen des ersten Jahrsiebts recht deutlich und lebendig darzustellen. Am nächsten Morgen, bevor der Kurs weiterging, machte ich noch einen Spaziergang in einem Naturpark, wo der Kuckuck besonders laut und eindringlich rief. Da wurde mir klar, was er mir sagen wollte.

Heute morgen traf ich bei meiner Pfingstmorgenrunde eine Mutter, wir unterhielten uns, und wieder waren da die appellierenden Kuckuckusrufe. Sie meinte dann, dass dieses Jahr die Kuckucksrufe besonders eindringlich seien.

Es ist eine wichtige Mahnung für uns alle in diesem Jahr, das schon so viele dramatische Weltereignisse mit sich brachte: Menschheit erkenne endlich das Wesen des Ich, besonders wie es sich im Kind immer neu, herrlich  und individuell offenbart. Wird es erkannt, wird es zur Rettung der Welt und der Menschheit seinen Beitrag leisten können!