Warum Sie gut aufpassen sollten, wann immer das Wort Spezialfall fällt
Gehrer will abnehmen. Er setzt auf die XYZ-Diät. Jeden Morgen stellt er sich auf die Waage. Hat er im Vergleich zum Vortag an Gewicht verloren, erlaubt er sich ein Lächeln und schreibt das Resultat dem Erfolg der Diät zu. Hat er zugenommen, tut er es als normale Fluktuation ab und vergisst es. Monatelang lebt er in der Illusion, die XYZ-Diät funktioniere, obwohl sein Gewicht etwa konstant bleibt. Gehrer ist Opfer des Confirmation Bias (Bestätigungsfehler) – einer harmlosen Form davon.
Der Confirmation Bias ist der Vater aller Denkfehler – die Tendenz, neue Informationen so zu interpretieren, dass sie mit unseren bestehenden Theorien, Weltanschauungen und Überzeugungen kompatibel sind. Anders ausgedrückt: Neue Informationen, die im Widerspruch zu unseren bisherigen Ansichten stehen (in der Folge als Disconfirming Evidence bezeichnet, da ein passender deutscher Ausdruck fehlt), filtern wir aus. Das ist gefährlich. Tatsachen hören nicht auf zu existieren, nur weil sie ignoriert werden.
In der Wirtschaft wütet der Confirmation Bias besonders heftig. Ein Beispiel: Der Aufsichtsrat beschließt eine neue Strategie. In der Folge werden sämtliche Anzeichen für einen Erfolg dieser Strategie euphorisch gefeiert. Wo man auch hinschaut, es gibt reichlich Hinweise, dass sie funktioniert. Gegenteilige Indizien gibt es zwar auch, doch werden sie entweder gar nicht gesehen oder kurzerhand als „Spezialfälle“ und „unvorhersehbare Schwierigkeiten“ abgetan. Der Aufsichtsrat ist gegenüber Disconfirming Evidence blind.
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Wie viel Überwindung es kostet, die eigene Theorie in Frage zu stellen, zeigt das folgende Experiment. Ein Professor legte seinen Studenten die Zahlenreihe „2, 4, 6“ vor. Sie mussten die zugrundeliegende Regel herausfinden, die sich der Professor auf die Rückseite eines Papierblatts geschrieben hatte. Die Probanden sollten eine nächste Zahl angeben, worauf er entweder mit „passt auf die Regel“ oder „passt nicht auf die Regel“ antworten würde. Dabei durften sie so viele Zahlen nennen, wie sie wollten, aber nur einmal raten, wie die Regel lautet. Die meisten Studenten sagten „8“, der Professor antwortete mit „passt auf die Regel“. Um sicherzugehen, probierten sie es noch mit „10“, „12“ und „14“. Der Professor antwortete jedes Mal: „Passt auf die Regel“. Daraufhin zogen die Studenten den Schluss: „Die Regel lautet: Addiere 2 zur letzten Zahl.“ Der Professor schüttelte den Kopf: „Das ist nicht die Regel, die auf der Rückseite dieses Blattes steht.“
Ein einziger gewiefter Student ging anders an die Aufgabe heran. Er probierte es mit „4“. Der Professor sagte: „Passt nicht auf die Regel.“ „7?“ „Passt auf die Regel.“ Der Student versuchte es weiter mit allerlei verschieden Zahlen: 24, 0, 9, -43. Offenbar hatte er eine Idee, und er versuchte, sie zu falsifizieren. Schließlich sagte er: „Die Regel lautet: Die nächste Zahl muss höher sein als die vorherige.“ Der Professor drehte das Blatt Papier um, und das war genau, was darauf stand. Was unterschied den findigen Kopf von seinen Mitstudenten? Während sie bloß ihre Theorie bestätigt haben wollten, suchte er nach Disconfirming Evidence. Schön für ihn und halb so schlimm für die anderen, mögen Sie denken. Aber auf den Confirmation Bias hereinzufallen ist kein intellektuelles Kavaliersdelikt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.10.2010 Seite 29
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So gut, richtig und interessant dies einerseits ist, so wenig kann man diese Regel generell gelten lassen. Für manche Forschungsgebiete, z.B. um das Wesen einer Sache zu erfassen, wird man viele widersprüchliche Beobachtungen machen. Man muss dann beginnen auch gegensätzliche Symptome zu gewichten, unwesentliches auszufiltern, um zum Kern der Sache zu kommen.
Auch neue, zukünftige Tendenzen kann man nicht auf diese Weise erfassen. Sie treten zunächst vereinzelt auf und müssen mühsam aufgefunden werden.