Dienstag, 26. Oktober 2010

RUDOLF STEINER IN PRAG

"Zur Geschichte der tschechischen anthroposophischen Bewegung

von Zdenek Varna

Die geistige Atmosphäre einer Stadt Prag gehört zu jenen Städten, die mit dem Lebenswerk Rudolf Steiners eng verbunden sind. Prag war eines der ersten Zentren der anthroposophischen Bewegung überhaupt und kann für sich sogar in Anspruch nehmen, die außerhalb rein deutschsprachiger Gebiete von Rudolf Steiner am häufigsten besuchte Stadt gewesen zu sein. Wie verschiedene Zeitgenossen bezeugten, kam Rudolf Steiner sehr gerne an diesen Ort, ja er liebte die «Goldene Stadt» und sprach sich verschiedentlich dankbar darüber aus, dass seine Vorträge hier eine so positive Aufnahme fänden. Zweifellos war in diesem Zusammenhang auch die besondere Aura dieser Stadt von Bedeutung, einer Stadt mit einer tausendjährigen geistigen Tradition, in der die Kulturströme aus allen Himmelsrichtungen Europas zusammentrafen und wieder in sie hinausstrahlten. Rudolf Steiner hat sich gegenüber seiner Gastgeberin Ida Freund, als er vom Fenster ihres Hauses das eindrucksvolle Panorama des Hradschins erblickte, eingehend über die hohe Geistigkeit dieser Stadt ausgesprochen. Er kannte sich schon bald sehr gut aus in den engen Gassen der Altstadt und schätzte ihre Sehenswürdigkeiten. Besonders die Wenzelskapelle im St. Veits-Dom und ihre mystische Beziehung zur Kreuzkapelle auf dem Karlstein haben ihn tief angesprochen. Dasselbe gilt auch für das alte Uhrwerk am Prager Rathaus mit den defilierenden Aposteln, dessen sagenhaften Ursprung er in den am 25. und 27. Januar 1916 in Berlin gehaltenen Vorträgen (in «Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln», GA 166) ausführlich besprach. Auch die Goldene Gasse auf dem Hradschin mit ihren winzigen Häuschen und ihrer alchymistischen Tradition hat ihn bezaubert und inspiriert.


Zu dieser geistigen Atmosphäre der Stadt, in der sich Rudolf Steiner so wohl fühlte, haben viele geschichtliche Faktoren beigetragen: Die ersten Heiligen im frühen Mittelalter, vor allem die michaelische Gestalt des hl. Wenzels; die mystischen Stimmungen in der Regierungszeit des - so die Worte Rudolf Steiners - «letzten eingeweihten Kaisers», Karl IV., die in vielen Bauten ihre deutlichen  Spuren hinterlassen haben; die bewegte Epoche von Jan Hus, des ersten Repräsentanten der tschechischen Bewusstseinsseele und die hussitischen Kämpfe um die Freiheit des Gewissens; das Streben der Böhmischen Brüder um ein reineres Christentum und endlich das Ende des 16. und der Anfang des 17. Jahrhunderts, die Zeit von John Dee, Tycho de Brabe, Johannes Kepler, J. A. Comenius u. a., als Prag zum Zentrum der alchymistischen und rosenkreuzerischen Bestrebungen wurde."