Quelle: http://www.focus.de/kultur/kunst/tid-20490/theater-das-grosse-klassiker-sterben_aid_573483.html"Das große Klassiker-Sterben
Freitag 19.11.2010, 06:05 · von FOCUS-Redakteur Gregor DolakJahrzehntelang spielten die deutschen Theater Shakespeare und Schiller. In der aktuellen Spielzeit drehen sie erstmals den Trend: Autoren der Gegenwart und wilde Text-Collageure erhalten den Vorzug vor den Dichtern und Denkern
Die Entwicklung klingt paradox: Deutschlands Theater spielen immer weniger Theater. Zwar stehen landauf, landab überall Schauspieler auf den Bühnen, sprechen und spielen ihren Text, lieben, leiden, lachen, wüten, weinen. Das Publikum strömt auch noch immer zu Hunderttausenden in die Aufführungen. Weil weiterhin Regisseure inszenieren und Bühnenbildner nach ihren Vorstellungen Kulissen bauen.
Genüge wäre damit der ohnehin äußerst reduzierten Definition von Regie-Altmeister Peter Brook getan: „Ein Mann geht durch einen Raum, während ihm ein anderer zusieht, das ist alles, was für eine Theateraufführung notwendig ist.“ Veritable Dramen führen die deutschen Schauspielhäuser dennoch immer weniger auf.
Uraufführungen und exotische Mischformen
Johan Simons, der neue Intendant an den Münchner Kammerspielen, zeigt in seiner ersten Saison überwiegend Bühnenadaptionen von Romanen und Filmen. Ob am Leipziger Centraltheater, dem Deutschen Theater in Berlin oder dem Staatsschauspiel von Hannover – auf den Spielplänen dominieren Uraufführungen, Text-Collagen, theatralische Projekte, exotische Mischformen aus Literatur und dokumentarischen Formaten. Dialogische Texte, die originär für die Bühne geschrieben wurden, haben es dagegen zunehmend schwer.
Konjunktur haben neuerdings immerhin die lebenden Autoren der Gegenwart. Der Trend zeichnete sich bereits beim Berliner Theatertreffen im Frühjahr ab, zu dem eine Jury die zehn wichtigsten Inszenierungen der abgelaufenen Saison einlud. Erstmals seit mehr als fünfzig Jahren zeigte dieses Festival mehr Werke zeitgenössischer Dichter als Werke von Klassikern. Eine Entwicklung, die sich nun auf den Bühnen in der ganzen Republik fortsetzt. Bei Publikum und Theatermachern beobachtet der Dramatiker Roland Schimmelpfennig “ausgesprochenes Interesse an neuen Texten”. Die Regisseure hätten sich offenbar an den Werken von Shakespeare bis Goethe abgearbeitet, so dass nun Platz in den Theaterprogrammen für druckfrische Ware sei."