Mittwoch, 24. November 2010

Boris Palmer - ehemaliger Waldorfschüler

Oberbürgermeister von Tübingen

Er selbst schreibt auf seiner Internetseite www.borispalmer.de in seinem Lebenslauf über seine Zeit als Waldorfschüler:


"SCHULE

"Erziehung zur Freiheit" lautet ein Schlagwort der Waldorfschulbewegung. Die meisten Schlagwörter überzeichnen einen Sachverhalt, so auch hier, denn zur Freiheit erziehen, das ist ein Widerspruch in sich. Anstöße zur Entwicklung einer freien Persönlichkeit geben, das ist allerdings möglich. Die Waldorfschule zeichnet sich eben dadurch aus, daß sie diesem hohen Ziel den Vorrang gegenüber der Vermittlung nackten Faktenwissens gibt und zuvörderst aus diesem Grunde betrachte ich es heute als Glücksfall und für meine Entwicklung entscheidendes Ereignis, daß ich die Chance erhielt, eine Waldorfschule zu 
besuchen.


Natürlich wußte ich davon noch nichts, als ich mit sieben Jahren erstmals die Freie Waldorfschule Engelberg betrat, ich hegte einfach nur eine große Vorfreude auf die Schule. Schon bald fühlte ich mich sehr wohl in meiner neuen Umgebung und sah in meiner Klassenlehrerin, Frau Kreßler, eine zweite Mutter. Ich freute mich auf jeden Schultag, lauschte mit Begeisterung den Erzählungen unserer Lehrerin und durchlebte die
Schicksale der verschiedensten Märchenfiguren - noch heute habe ich die Bilder vor mir, die meine Phantasie damals zeichnete. Nach und nach hielten auch Fächer Einzug in den Unterricht, die intellektuell Forderungen stellten, und hier konnte ich immer mehr meine Begabungen ausspielen. Lesen hatte ich ohnehin schon vor der Einschulung gelernt, und besonders im Rechnen wurde ich zum Klassenprimus. Bei all dem bemühte ich mich stets, meiner geliebten Lehrerin zu gefallen, die Hausaufgaben wurden immer erledigt, und wo es Arbeit gab, bot ich stets meine Hilfe an. Nur in den musischen und praktischen Fächern hatte ich meine liebe Müh', doch das ließ sich ertragen, hielt ich dies sowieso für Frauensache.


Mit Beginn der fünften Klasse zerbrach die Kinderwelt allmählich, im gleichen Maße, wie ich im Elternhaus vereinsamte, distanzierte ich mich auch von meiner Schule, von Frau Kreßler und den Klassenkameraden. Aus der Verehrung für die Lehrerin wurde massive Opposition, mein fortschreitender Wissensstand ermöglichte es mir, ihre fachlichen Defizite zu erkennen, die nun ihr unschätzbares Talent im Umgang mit Kindern überdeckten. Innerhalb der Klasse wurde ich zum Sonderling, an dem man zwar nicht vorbeikonnte, den man aber auch nicht mehr als nötig einband. Umso mehr trachtete ich danach, durch Vermehrung meines
Wissensvorsprungs meine Position zu festigen. Doch Befriedigung erwuchs daraus in der Schule nicht, in der siebten Klasse führte ich ein Aufnahmegespräch an einem Gymnasium, und nur die Angst vor dem Unbekannten verhinderte einen Wechsel.


Heute bin ich sehr froh über diese Entwicklung, denn schon bald setzte ein grundlegender Wandel ein. Meine Lehrer erkannten sehr wohl, daß es mir an Aufgaben und Zielen mangelte, da ich die Anforderungen im Unterricht nicht als solche empfand. So stellte mir Herr Peter, mein künftiger Mathematiklehrer, Sonderaufgaben mit dem Stoff höherer Klassen und ich durfte früher als sonst jemand, eine Beleuchterkarriere an unserer Bühne beginnen.


Setze ich sonst voraus, daß die Eigenarten einer Waldorfschule dem geschätzten Leser bekannt sind, so muß ich dies wohl etwas näher erläutern. In der achten und zwölften Klasse werden an unserer Schule sogenannte Klassenspiele aufgeführt, von Shakespeare über Goethe und Schiller bis Zuckmayer und Wilder reicht das Programm. Dazu gibt es an unserer Schule zwei Bühnen, den großen und kleinen Saal, die jeweils mit einer semiprofessionellen Beleuchtungstechnik ausgestattet sind. Herr Morris, mein Englischlehrer, kümmert sich noch heute um deren Einsatz, und so lernte ich damals bei ihm das Handwerk, Theater ins rechte Licht zu setzen. Gleich meine erste große Aufgabe war es, den Kopf des Mephisto in Goethes Faust, den Herr Rüttinger 1987 mit einer zwölften Klasse inszenierte, über fünf Stunden mittels eines Verfolgers in ein grünliches Licht zu setzen. Auf eine Entfernung von zwanzig Metern nicht so einfach!


Viel wichtiger als die technischen und künstlerischen Fertigkeiten, die ich mir als Beleuchter in fünf Jahren erworben habe, waren aber die Kontaktmöglichkeiten, die sich daraus ergaben. Denn die Klassenspiele sind mit eine der Einrichtungen, die die besondere Zusammengehörigkeit der Oberstufe an einer Waldorfschule ermöglichen. Und ich war nun bei Proben und Aufführungen aller Spiele dabei! So fand ich endlich eine Möglichkeit, mich in das soziale Gefüge der Schule einzubringen, und ich hatte sehr großen Spaß daran, ergriff die Chance mit brennendem Eifer. Durch die Freundschaft zu den Beleuchtern meiner Vorgängergeneration, mit denen ich noch heute eng verbunden bin, wurde mir das Tor zur ganzen Oberstufe geöffnet, bald sah man mich nur noch bei den 12ern stehen, wo ich doch gerade in die 9.Klasse gekommen war. So wandelte ich mich vom arroganten Eigenbrötler in der eigenen Klasse zum engagierten Oberstufenschüler.


Zudem konnte ich nun auch meinen Wissensdurst in der Schule besser stillen, denn vom ersten Tag der Oberstufe kehrte ein ganz neuer Arbeitsstil ein, endlich wurde ich in meinen Paradefächern wieder gefordert. Zu meinem neuen Klassenbetreuer, Herrn Schneider, fand ich bald ein noch tieferes Verhältnis als am Anfang meiner Schulzeit zu Frau Kreßler. War es damals kindliche Liebe, so brachte ich ihm nun die aufrichtige Zuneigung eines jungen Erwachsenen entgegen und spürte bald, daß er diese erwiderte, wir verstanden uns glänzend. Der Umbruch war geschafft, ich ging wieder gerne zur Schule, und immer mehr nahm sie mein ganzes Denken und Fühlen ein, ich engagierte mich fast ausnahmslos bei allen Unternehmungen der Schule, und so kam es auch, daß ich dazu stieß, als im Sommer 1988 eine neue Schülerzeitung gegründet werden sollte. Zunächst agierte ich zurückhaltend, übernahm nur wenige Artikel und die Aufgabe, das Layout herzustellen. Gemeinsam mit Ivar, einem jener älteren Beleuchter, arbeitete ich 24 Stunden daran, dann hatten wir die erste Ausgabe des "Steinschlag" vor uns. Welch ein Gefühl, endlich das fertige Heft in Händen zu halten! Von der Nächsten Ausgabe an brachte ich mich auch hier voll ein, immer besser sollte das Heft werden, und bis zur Ausgabe 8 oblag mir die Gestaltung des Heftes, arbeitete ein Team von Freunden in unvergeßlichen Wochen oft tagelang ohne Schlaf an diesem Layout. Ein wenig flüchtete ich aus der von Streit zerrütteten Welt der Eltern in die heile Welt meiner Schule, hier fand ich Anerkennung, Aufgabe und Befriedigung. Unmöglich, all die Klassenspiele, Bälle, Martinsmärkte, Jahresabschlüsse und Vorträge zu erwähnen, zu denen ich in die Schule eilte, kaum eine Veranstaltung, die nicht einen Beleuchter gebrauchen konnte.


Obwohl all diese Aktivitäten sehr zeitaufwendig waren, hatte ich noch genügend Kapazitäten für die Schule frei. In den naturwissenschaftlichen Fächern, aber auch in Geschichte und Deutsch war es für mich selbstverständlich, stets unter den Besten zu sein. Doch anders als in den vorausgegangenen Jahren veranlaßte mich dies nicht mehr zu herablassenden Bemerkungen gegenüber Schwächeren, ich bemühte mich,vom hohen Roß herabzusteigen und erkannte, daß die bessere intellektuelle Ausstattung noch lange keinen besseren Menschen macht.


Sehr hilfreich war mir dabei, daß man an Waldorfschulen großen Wert auf den praktischen Unterricht legt, und hier konnte ich erleben, wo meine Schwächen lagen, daß die meisten Klassenkameraden mir in dieser Hinsicht viel voraus hatten. Wenngleich ich mir heute sage, daß ich im praktischen Unterricht gerade deswegen viel gelernt habe, weil ich dafür nur wenig Talent mitbrachte, waren dies damals natürlich nicht unbedingt meine Lieblingsfächer, so daß ich im elften Schuljahr aus einer einfachen Überlegung heraus eine Entscheidung traf, die mir heute sehr wichtig ist: Aus dem Stundenplan ging hervor, daß zwei Wochenstunden entweder mit einem praktisch-künstlerischen Fach oder mit Latein zu belegen waren. Nun hatte ich in der siebten Klasse, in der der Lateinunterricht beginnt aus reinem Protest die Bitten meiner Klassenlehrerin abgelehnt, in die Lateinklasse einzutreten. Doch kurz entschlossen, fragte ich nun Herrn Stülpnagel, den Lateinlehrer unserer Schule, ob ich wohl versuchsweise noch jetzt in die Riege der Lateinschüler aufgenommen werden könne. Angesichts fehlender Präzedenzfälle hielt er dies für gewagt, doch ebenso für den Versuch wert. In eineinhalb Jahren bereitete ich mich daher auf die schriftliche Prüfung vor, und wenn ich auch oft mit mir selbst kämpfen mußte, faszinierte mich diese Sprache doch immer mehr, der Geist einer alten Zeit sprach durch sie zu mir. Diese Faszination machte es mir schließlich leicht, auch die Prüfung zu bestehen und nach nur zwei Jahren das kleine Latinum in den Händen zu halten.


Natürlich war das zwölfte Schuljahr, das letzte der Waldorfschule vor dem staatlich geprägten Abiturjahr, dadurch nicht ausgefüllt. Ganz im Gegenteil, nie nahm ich an mehr Aktivitäten teil: Im Herbst brachte meine Klasse "Die Heiratsvermittlerin" zur Aufführung, im Frühjahr standen gemeinsame Jahresarbeit und Walldorfabschluß an, wir gingen auf Klassenreise, der Schulchor führte die Carmina Burana auf und noch immer betätigte ich mich als Beleuchter und schrieb Artikel für die Schülerzeitung. Allmählich kündigte sich aber auch das nächste Jahr an, das ganz andere Schwerpunkte setzen sollte. Immer zielstrebiger ging man auf Abituraufgaben zu und mit großer Genugtuung registrierte ich, daß ich nun in der Lage war, Grundkursaufgaben der Mathematik vollständig zu lösen. Dadurch wußte ich endlich, für welchen der beiden einzigen zur Wahl stehenden Leistungskurse ich mich entscheiden sollte, der Mathematik, nicht der englischen Sprache, sollte mein Hauptaugenmerk im letzten Schuljahr gelten.




Unaufhaltsam rückte es näher, und im August des Jahres 1991 saßen wir erstmals in neuer Mischung beieinander, die Schüler der einstigen Parallelklassen, die sich für das Abitur qualifiziert hatten. Es dauerte nur wenigen Wochen, bis sich ein starker Zusammenhalt in der neuen Klasse gebildet hatte, geeint durch das gemeinsame Ziel, das uns voll beanspruchte, fanden wir zueinander. An die Stelle eines sinnlosen Konkurrenzkampfes setzten wir gemeinsames Lernen, hielten so dem Prüfungsdruck stand und knüpften echte Freundschaften. Für mich stand dabei ganz klar die Backbench im Vordergrund, die letzte Reihe, in der vier Jungs aus dem Mathe LK saßen, Ralf, genannt "Ray, der Marxist", Wolfgang, genannt "Wolle, der Wurstfabrikant", Johannes, genannt "Hannes der Marlboroman" und ich, die "1,0". Ich habe mich nie mehr so wohl in einer Gruppe gefühlt, wie in diesem Jahr in unserer Klasse. Die Zeit verging schließlich wie im Flug, und die meisten von uns konnten zufrieden auf ein schönes und erfolgreiches Jahr zurückblicken, wir hatten uns nicht unterkriegen lassen.


Ich denke ebenso gerne an mein Abiturjahr zurück, wie an die Oberstufenzeit. Kein Wunder also, daß ich nach dem erfolgreichen Abschluß meiner Schulzeit nicht nur fröhlich gestimmt war. Dies bedeutete für mich zugleich die Trennung vom bislang wichtigsten Abschnitt meines Lebens, von der Schule, die zum Inbegriff meiner Jugend geworden ist. Schon bald mußte ich erkennen, daß Idealismus und Engagement, Tugenden, die ich an meiner Schule als prägend empfand, in der heutigen Gesellschaft weitaus weniger verbreitet sind, als ich gehofft hatte. Ich bemerkte erst jetzt, wie andersartig ich als Waldorfschüler die Welt sah, wie anders ich fühlte und dachte. Mit meinen Mitschülern und Lehrern hatte mich eine Art Grundkonsens verbunden, der nun völlig fehlte. Ich hatte deswegen manche Krise zu bestehen, doch mein Wille im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten gesellschaftliche Veränderungen zu erstreben, ist noch immer ungebrochen - welchen Sinn könnte das Leben sonst bieten? ....