Autor: Joachim Käppner
|20.11.2010
"Als ob ein Engel in die Hölle kam"
Im Juli 1942 läuft die "Aktion Reinhardt" an, in Galizien dirigiert von den SS-Führern Odilo Globocnik und Friedrich Katzmann. Wer als Jude nicht zur Zwangsarbeit taugt, soll "liquidiert" werden, auch wenn die offiziellen Aufträge dies noch verschleiern. Schon im März 1942 hat der Judenrat von Drohobycz 1500 Menschen für den Abtransport auswählen müssen. Die Opfer wurden in Viehwaggons verladen, verhöhnt von betrunkenen Schutzpolizisten. Im nahen Boryslaw sorgen die Berichte von Augenzeugen aus der Nachbarstadt für blankes Entsetzen. Wohin die Züge gefahren sind, nämlich ins Vernichtungslager Belzec, wissen freilich erst wenige. Auch Berthold Beitz ist "der Meinung, die Menschen würden ausgesiedelt, und ich habe nicht damit gerechnet, dass ihre totale Liquidierung erfolgte".
Der große Schlag trifft Boryslaws Juden im Sommer 1942. Am Abend des 6. August fallen SS-Einheiten, Schutzpolizisten und ihre ukrainischen Schergen in der Stadt ein und gehen auf Menschenjagd. Es kommt zu grauenvollen Szenen. Die Deutschen brechen Türen auf, suchen in Kellern und auf Böden nach Verstecken; sie erschießen Alte, die nicht gehen können, auf der Stelle und werfen die Säuglinge des jüdischen Waisenhauses aus den Fenstern. Größere Kinder werden barfuß und unter Prügeln zum Bahnhof getrieben. Dort warten die Viehwaggons für die Fahrt in den Tod. Jurek Rotenberg sieht das alles von seinem Versteck auf Danutas Dachboden aus. Er will wegschauen, aber die Mutter lässt ihn nicht: "Schau hin, damit du weißt, was sie getan haben!" Atemlos starrt der Junge durch das kleine Fenster, er hat freien Blick, das Haus liegt, leicht erhöht, dem Bahnhof genau gegenüber. Ukrainer und SS-Leute treiben Dutzende, dann Hunderte Juden zusammen. Manche sind gut angezogen, als hätten sie sich für eine Reise angekleidet, sie tragen Gepäck. Andere gehen in Lumpen. Die Kinder aus dem Waisenhaus haben nur Nachthemden an und keine Schuhe.
Da fährt ein Wagen vor, und ein Mann steigt aus, den Jurek noch nie gesehen hat. Er trägt Hut und Mantel und geht mitten hinein in das Chaos auf dem Bahnsteig. Bewaffnete SS-Leute treten ihm in den Weg. Ihr Anführer, ein Offizier, fuchtelt mit den Armen und brüllt auf den Fremden ein, wie sich Jurek Rotenberg erinnert: "Aber er ist ganz ruhig geblieben, wie ein Gentleman unter diesen schrecklichen Männern. Er zeigte auf die Waggons und ging einfach durch auf den Bahnsteig." Dort verschwindet er aus Rotenbergs Blickfeld. Was macht er bloß, fragen sich der Junge und seine Mutter. Haben sie ihn jetzt erschossen? Aber nach einer Weile kommt der Mann zurück, hinter ihm eine ganze Reihe von Juden aus den Bahnwaggons. Neben seinem Wagen sind einige Laster aufgefahren, die Menschen steigen ein, und die Kolonne entfernt sich. Der Mann ist Berthold Beitz. Er hat eigentlich auf eine Dienstreise fahren wollen, aber sein jüdischer Buchhalter und leitender Angestellter Jozef Hirsch, der Böses ahnt, beschwört ihn zu bleiben: "Besorgt ging er [Hirsch] mit dieser Nachricht zu Herrn Beitz und bat ihn, von der Reise Abstand zu nehmen. Herr Beitz verzichtete auf die Reise und blieb in der Stadt. In der Nacht kam die große Aktion." Schüsse, Gebrüll und Schreie der "Aktion" sind bis aufs Betriebsgelände zu hören. Beitz untersagt den jüdischen Angestellten, die noch im Haus sind, das Gelände der Karpathen-Öl zu verlassen.
Für andere ist es zu spät. Sie werden zu Hause oder auf der Straße geschnappt und zum Bahnhof getrieben, teils mit Hilfe deutscher Werksangehöriger. Beitz eilt in die Stadt und wird eine Weile bei der Polizei festgehalten, ehe er schließlich mit dem Wagen zum Bahnhof fährt. ... Beitz drängt sich, wie Rotenberg durch sein Dachfenster beobachtet hat, durch die Posten der SS und an einem schreienden Offizier vorbei bis auf den Bahnsteig. Er hört Weinen und Hilferufe aus den Waggons, das Gebrüll der SS-Männer und Polizisten, das Bellen der scharfen Hunde. Noch immer hallen Schüsse, als die Häscher einzelne Juden am Bahnhof erschießen. Beitz läuft an den Waggons entlang und ruft Namen, die er kennt. Er ruft, so laut er kann. Arbeiter der Karpathen-Öl sollen sich melden. Eine vielstimmige Menge schreit zurück: "Herr Direktor, nehmen Sie mich!" - "Ich arbeite bei Ihnen!" Er zieht so viele Menschen heraus, wie er kann, und keineswegs nur seine Leute. So deutet er auf den 21-jährigen Boryslawer Juden Zygmunt Spiegler: Auch der gehöre zu ihm. Spiegler selbst hat Beitz noch nie gesehen, es erscheint ihm, als ob "ein Engel plötzlich in die Hölle kam". Und er berichtet später, dass Beitz viele Menschen nach ihren Berufen fragt: "Die Antwort schien ihm allerdings ziemlich gleichgültig zu sein, denn er rief auch solche Personen heraus, die als Beruf 'Friseur' oder 'Gärtner' angaben."
Die SS-Leute geben oft nach, überrascht und überfordert. Gleichwohl vermag Beitz nicht jedem zu helfen. So kann er die Mutter jener Sekretärin mit den braunen, traurigen Augen nicht retten, über deren Schicksal er fast fünfzig Jahre später bei der Ehrung in Yad Vashem weinen wird. "Ist es erlaubt, Herr Direktor, dann gehe ich auch zurück", sagt die junge Frau, sie sieht ihn an und steigt wieder in den Waggon, in den ihre Mutter zurückgehen musste. Ein SS-Mann hat sie nicht gehen lassen, weil er nicht glaubte, dass die alte Frau in der Ölindustrie arbeiten könne: "Die geht wieder zurück. Die andere können Sie haben, die schenke ich Ihnen." Diese Tragödie ist eine Schlüsselszene für Berthold Beitz, für Macht und Ohnmacht, die er in Boryslaw oft im selben Moment spürt. Sie lässt ihn niemals mehr los, er wird sie in späteren Jahren immer wieder erzählen, wie in Jerusalem 1990. Er allein und niemand sonst hätte 1942 am Bahnhof von Boryslaw die Macht und die Kraft, die junge Frau zu retten, aber für ihre Mutter und viele andere kann er nichts tun; bei ihr funktioniert die Legende der Unabkömmlichkeit nicht, mit der er seine Rettungsaktionen oft so erfolgreich tarnt.
Viele Menschen bewahrt er an diesem Tag vor der Fahrt in den Tod, viele der Karpathen-Arbeiter und Angehörige, manche Beschäftigte, deren Familie dennoch nach Belzec transportiert wird, und nicht wenige Juden, die mit seiner Firma gar nichts zu tun haben. Zu den Geretteten gehört Oskar Bander, der als Buchhalter bei der Karpathen-Öl beschäftigt ist - seine Frau arbeitet dort in der Werksküche - und der nach dem Einmarsch der Deutschen im Vorjahr den einquartierten Kommandanten zornig gefragt hatte: "Wollt ihr uns alle erschießen?" Jetzt weiß er die Antwort. Beitz holt ihn aus dem Zug. Aber das Schicksal trifft die Familie dennoch hart an diesem Tag. Der ältere Sohn Karol hat sich, als die "akcja", wie die Polen sagen, durch die Straßen tobt, ganz oben in einem der großen hölzernen Fördertürme verborgen, die das Stadtbild dominieren. Ein Freund ruft ihn, der Vater suche ihn, er solle besser zur Karpathen-Öl kommen.
Aber als Karol die Stiegen herabsteigt, ist er kurz an einem kleinen Fenster zu sehen, und genau in diesem Moment schaut ein ukrainischer Polizist hoch. Als der Junge unten ist, warten die Menschenfänger schon und bringen ihn zum Bahnhof. Karol hat keinen rettenden Arbeitsausweis. Und der Vater wird Janek, dem jüngeren Sohn, später immer wieder erzählen, dass Berthold Beitz den großen Bruder trotzdem aus dem Waggon holen wollte, aber SS-Männer hätten es nicht erlaubt: "Der ist jung, den nehmen wir mit zur Arbeit!" Janek und seine Mutter haben für ein Versteck bezahlt und klettern in den großen Kleiderschrank bei einer Ukrainerin. Der Jüngere hört Poltern an der Haustür, dann die rauen Stimmen der Milizionäre: "Juden! Sind hier Juden?" Was wird die Frau jetzt tun?, fragt sich Janek, außer sich vor Angst. Aber die sagt geistesgegenwärtig: "Bei uns? Was denkt ihr denn? Wir sind doch alle Ukrainer! Wir hassen die Juden." Die Männer rücken ab. So überlebt Janek Bander die August-"Aktion". Doch sein geliebter Bruder Karol fährt für immer davon. Er wird in Janowska ermordet.
Der Fall Lizzy Lockspeiser ist von besonderer Tragik. Ihr Name gehört zu jenen, die Beitz im Chaos auf dem Bahnsteig immer wieder laut ruft. Und es muss sich eine Frau gemeldet haben, die dann aus dem Waggon geholt wurde. Jedenfalls erinnert sich Anita Lauf, dass die Familie im Lauf des Tages eine Botschaft von Beitz erhielt: "Die Lockspeiser habe ich." Die ungläubige Freude der Familie weicht dem erneuten Schock, als Lizzy nicht auftaucht. Sie war nicht die gerettete Frau. "Herr Beitz kannte Lizzy Lockspeiser ja nicht", sagt Anita Lauf heute, "er trägt keine Schuld - schließlich hat er alles versucht, um sie zu retten." ... Doch Lizzy Lockspeisers Leben haben die Mörder nun genommen. Beitz ist auf dem Bahnhof von Boryslaw bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er hat viele retten können und manche nicht: die Sekretärin, ihre Mutter, Frau Lockspeiser. Aber Hunderte verdanken ihm an diesem Tag ihr Leben. Er tut, woran andere nicht zu denken wagen. Und er tut das in einer Zeit, in der wenig Hoffnung besteht, dass das Regime des Terrors bald enden könnte, im Gegenteil.
Und dennoch folgt Beitz der Stimme des Gewissens und stellt sich den Mördern in den Weg. Sein Auftreten, so wie es der junge Jurek Rotenberg von seinem Versteck im Dachgeschoss aus beobachtet, verwirrt die SS-Männer. Dass ein Mann sich für andere, ihm meist ja völlig Fremde in Gefahr bringt - das ist in ihren Denkmustern nicht vorgesehen. Wer ihnen, wie Berthold Beitz, selbstbewusst gegenübertritt und Forderungen stellt, kann in ihren Augen nur ein mächtiger Mann sein. Es muss da etwas geben, was sie nicht wissen - Gönner in höchsten Positionen vielleicht? Beitz untersteht ja dem Oberkommando des Heeres (OKH). "Darauf", so Beitz, "berief ich mich immer, das machte Eindruck bei denen. Sonst wären die Rettungsaktionen in Boryslaw gar nicht möglich gewesen." Beitz trägt stets ein Telegramm aus dem OKH bei sich, das sämtliche Behörden in Boryslaw auffordert, "die für die Aufrechterhaltung der Erdölproduktion erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen". Als ein hoher SS-Offizier aus Lemberg das einmal liest, gibt er mit den Worten nach: "Aha, so ist die Sache." Ohne die jüdischen Rüstungsarbeiter aus dem Werk - oder die, die er als solche ausgibt - sei die Treibstoffproduktion in Gefahr, betont Beitz und erweckt den Eindruck, als sei sein Eingreifen direkt mit dem OKH abgesprochen.
Das ist nicht der Fall. Gewiss, im deutschen Besatzungsgebiet, gerade in Polen, gibt es einen natürlichen Widerspruch zwischen den Interessen der Rüstungsproduktion und den Massenmorden des Vernichtungsapparates. Aber nur sehr wenige Manager der Kriegswirtschaft lassen es auf massive Konflikte mit der SS ankommen, und noch weniger tun das uneigennützig, aus Menschlichkeit den Opfern gegenüber. Beitz dagegen spielt die Karte der Rüstungsinteressen, sooft er nur kann: "Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, dass ich an höherer Stelle intervenieren würde, wenn sie nicht nachgeben, das hat oft funktioniert - aber nur, weil sie meinen Einfluss überschätzt haben."
Zum ersten Mal erscheint eine Biografie über Berthold Beitz. Sie wirft Licht auf seine Rolle im Dritten Reich
Im Juli 1942 läuft die "Aktion Reinhardt" an, in Galizien dirigiert von den SS-Führern Odilo Globocnik und Friedrich Katzmann. Wer als Jude nicht zur Zwangsarbeit taugt, soll "liquidiert" werden, auch wenn die offiziellen Aufträge dies noch verschleiern. Schon im März 1942 hat der Judenrat von Drohobycz 1500 Menschen für den Abtransport auswählen müssen. Die Opfer wurden in Viehwaggons verladen, verhöhnt von betrunkenen Schutzpolizisten. Im nahen Boryslaw sorgen die Berichte von Augenzeugen aus der Nachbarstadt für blankes Entsetzen. Wohin die Züge gefahren sind, nämlich ins Vernichtungslager Belzec, wissen freilich erst wenige. Auch Berthold Beitz ist "der Meinung, die Menschen würden ausgesiedelt, und ich habe nicht damit gerechnet, dass ihre totale Liquidierung erfolgte".
Der große Schlag trifft Boryslaws Juden im Sommer 1942. Am Abend des 6. August fallen SS-Einheiten, Schutzpolizisten und ihre ukrainischen Schergen in der Stadt ein und gehen auf Menschenjagd. Es kommt zu grauenvollen Szenen. Die Deutschen brechen Türen auf, suchen in Kellern und auf Böden nach Verstecken; sie erschießen Alte, die nicht gehen können, auf der Stelle und werfen die Säuglinge des jüdischen Waisenhauses aus den Fenstern. Größere Kinder werden barfuß und unter Prügeln zum Bahnhof getrieben. Dort warten die Viehwaggons für die Fahrt in den Tod. Jurek Rotenberg sieht das alles von seinem Versteck auf Danutas Dachboden aus. Er will wegschauen, aber die Mutter lässt ihn nicht: "Schau hin, damit du weißt, was sie getan haben!" Atemlos starrt der Junge durch das kleine Fenster, er hat freien Blick, das Haus liegt, leicht erhöht, dem Bahnhof genau gegenüber. Ukrainer und SS-Leute treiben Dutzende, dann Hunderte Juden zusammen. Manche sind gut angezogen, als hätten sie sich für eine Reise angekleidet, sie tragen Gepäck. Andere gehen in Lumpen. Die Kinder aus dem Waisenhaus haben nur Nachthemden an und keine Schuhe.
Da fährt ein Wagen vor, und ein Mann steigt aus, den Jurek noch nie gesehen hat. Er trägt Hut und Mantel und geht mitten hinein in das Chaos auf dem Bahnsteig. Bewaffnete SS-Leute treten ihm in den Weg. Ihr Anführer, ein Offizier, fuchtelt mit den Armen und brüllt auf den Fremden ein, wie sich Jurek Rotenberg erinnert: "Aber er ist ganz ruhig geblieben, wie ein Gentleman unter diesen schrecklichen Männern. Er zeigte auf die Waggons und ging einfach durch auf den Bahnsteig." Dort verschwindet er aus Rotenbergs Blickfeld. Was macht er bloß, fragen sich der Junge und seine Mutter. Haben sie ihn jetzt erschossen? Aber nach einer Weile kommt der Mann zurück, hinter ihm eine ganze Reihe von Juden aus den Bahnwaggons. Neben seinem Wagen sind einige Laster aufgefahren, die Menschen steigen ein, und die Kolonne entfernt sich. Der Mann ist Berthold Beitz. Er hat eigentlich auf eine Dienstreise fahren wollen, aber sein jüdischer Buchhalter und leitender Angestellter Jozef Hirsch, der Böses ahnt, beschwört ihn zu bleiben: "Besorgt ging er [Hirsch] mit dieser Nachricht zu Herrn Beitz und bat ihn, von der Reise Abstand zu nehmen. Herr Beitz verzichtete auf die Reise und blieb in der Stadt. In der Nacht kam die große Aktion." Schüsse, Gebrüll und Schreie der "Aktion" sind bis aufs Betriebsgelände zu hören. Beitz untersagt den jüdischen Angestellten, die noch im Haus sind, das Gelände der Karpathen-Öl zu verlassen.
Für andere ist es zu spät. Sie werden zu Hause oder auf der Straße geschnappt und zum Bahnhof getrieben, teils mit Hilfe deutscher Werksangehöriger. Beitz eilt in die Stadt und wird eine Weile bei der Polizei festgehalten, ehe er schließlich mit dem Wagen zum Bahnhof fährt. ... Beitz drängt sich, wie Rotenberg durch sein Dachfenster beobachtet hat, durch die Posten der SS und an einem schreienden Offizier vorbei bis auf den Bahnsteig. Er hört Weinen und Hilferufe aus den Waggons, das Gebrüll der SS-Männer und Polizisten, das Bellen der scharfen Hunde. Noch immer hallen Schüsse, als die Häscher einzelne Juden am Bahnhof erschießen. Beitz läuft an den Waggons entlang und ruft Namen, die er kennt. Er ruft, so laut er kann. Arbeiter der Karpathen-Öl sollen sich melden. Eine vielstimmige Menge schreit zurück: "Herr Direktor, nehmen Sie mich!" - "Ich arbeite bei Ihnen!" Er zieht so viele Menschen heraus, wie er kann, und keineswegs nur seine Leute. So deutet er auf den 21-jährigen Boryslawer Juden Zygmunt Spiegler: Auch der gehöre zu ihm. Spiegler selbst hat Beitz noch nie gesehen, es erscheint ihm, als ob "ein Engel plötzlich in die Hölle kam". Und er berichtet später, dass Beitz viele Menschen nach ihren Berufen fragt: "Die Antwort schien ihm allerdings ziemlich gleichgültig zu sein, denn er rief auch solche Personen heraus, die als Beruf 'Friseur' oder 'Gärtner' angaben."
Die SS-Leute geben oft nach, überrascht und überfordert. Gleichwohl vermag Beitz nicht jedem zu helfen. So kann er die Mutter jener Sekretärin mit den braunen, traurigen Augen nicht retten, über deren Schicksal er fast fünfzig Jahre später bei der Ehrung in Yad Vashem weinen wird. "Ist es erlaubt, Herr Direktor, dann gehe ich auch zurück", sagt die junge Frau, sie sieht ihn an und steigt wieder in den Waggon, in den ihre Mutter zurückgehen musste. Ein SS-Mann hat sie nicht gehen lassen, weil er nicht glaubte, dass die alte Frau in der Ölindustrie arbeiten könne: "Die geht wieder zurück. Die andere können Sie haben, die schenke ich Ihnen." Diese Tragödie ist eine Schlüsselszene für Berthold Beitz, für Macht und Ohnmacht, die er in Boryslaw oft im selben Moment spürt. Sie lässt ihn niemals mehr los, er wird sie in späteren Jahren immer wieder erzählen, wie in Jerusalem 1990. Er allein und niemand sonst hätte 1942 am Bahnhof von Boryslaw die Macht und die Kraft, die junge Frau zu retten, aber für ihre Mutter und viele andere kann er nichts tun; bei ihr funktioniert die Legende der Unabkömmlichkeit nicht, mit der er seine Rettungsaktionen oft so erfolgreich tarnt.
Viele Menschen bewahrt er an diesem Tag vor der Fahrt in den Tod, viele der Karpathen-Arbeiter und Angehörige, manche Beschäftigte, deren Familie dennoch nach Belzec transportiert wird, und nicht wenige Juden, die mit seiner Firma gar nichts zu tun haben. Zu den Geretteten gehört Oskar Bander, der als Buchhalter bei der Karpathen-Öl beschäftigt ist - seine Frau arbeitet dort in der Werksküche - und der nach dem Einmarsch der Deutschen im Vorjahr den einquartierten Kommandanten zornig gefragt hatte: "Wollt ihr uns alle erschießen?" Jetzt weiß er die Antwort. Beitz holt ihn aus dem Zug. Aber das Schicksal trifft die Familie dennoch hart an diesem Tag. Der ältere Sohn Karol hat sich, als die "akcja", wie die Polen sagen, durch die Straßen tobt, ganz oben in einem der großen hölzernen Fördertürme verborgen, die das Stadtbild dominieren. Ein Freund ruft ihn, der Vater suche ihn, er solle besser zur Karpathen-Öl kommen.
Aber als Karol die Stiegen herabsteigt, ist er kurz an einem kleinen Fenster zu sehen, und genau in diesem Moment schaut ein ukrainischer Polizist hoch. Als der Junge unten ist, warten die Menschenfänger schon und bringen ihn zum Bahnhof. Karol hat keinen rettenden Arbeitsausweis. Und der Vater wird Janek, dem jüngeren Sohn, später immer wieder erzählen, dass Berthold Beitz den großen Bruder trotzdem aus dem Waggon holen wollte, aber SS-Männer hätten es nicht erlaubt: "Der ist jung, den nehmen wir mit zur Arbeit!" Janek und seine Mutter haben für ein Versteck bezahlt und klettern in den großen Kleiderschrank bei einer Ukrainerin. Der Jüngere hört Poltern an der Haustür, dann die rauen Stimmen der Milizionäre: "Juden! Sind hier Juden?" Was wird die Frau jetzt tun?, fragt sich Janek, außer sich vor Angst. Aber die sagt geistesgegenwärtig: "Bei uns? Was denkt ihr denn? Wir sind doch alle Ukrainer! Wir hassen die Juden." Die Männer rücken ab. So überlebt Janek Bander die August-"Aktion". Doch sein geliebter Bruder Karol fährt für immer davon. Er wird in Janowska ermordet.
Der Fall Lizzy Lockspeiser ist von besonderer Tragik. Ihr Name gehört zu jenen, die Beitz im Chaos auf dem Bahnsteig immer wieder laut ruft. Und es muss sich eine Frau gemeldet haben, die dann aus dem Waggon geholt wurde. Jedenfalls erinnert sich Anita Lauf, dass die Familie im Lauf des Tages eine Botschaft von Beitz erhielt: "Die Lockspeiser habe ich." Die ungläubige Freude der Familie weicht dem erneuten Schock, als Lizzy nicht auftaucht. Sie war nicht die gerettete Frau. "Herr Beitz kannte Lizzy Lockspeiser ja nicht", sagt Anita Lauf heute, "er trägt keine Schuld - schließlich hat er alles versucht, um sie zu retten." ... Doch Lizzy Lockspeisers Leben haben die Mörder nun genommen. Beitz ist auf dem Bahnhof von Boryslaw bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er hat viele retten können und manche nicht: die Sekretärin, ihre Mutter, Frau Lockspeiser. Aber Hunderte verdanken ihm an diesem Tag ihr Leben. Er tut, woran andere nicht zu denken wagen. Und er tut das in einer Zeit, in der wenig Hoffnung besteht, dass das Regime des Terrors bald enden könnte, im Gegenteil.
Und dennoch folgt Beitz der Stimme des Gewissens und stellt sich den Mördern in den Weg. Sein Auftreten, so wie es der junge Jurek Rotenberg von seinem Versteck im Dachgeschoss aus beobachtet, verwirrt die SS-Männer. Dass ein Mann sich für andere, ihm meist ja völlig Fremde in Gefahr bringt - das ist in ihren Denkmustern nicht vorgesehen. Wer ihnen, wie Berthold Beitz, selbstbewusst gegenübertritt und Forderungen stellt, kann in ihren Augen nur ein mächtiger Mann sein. Es muss da etwas geben, was sie nicht wissen - Gönner in höchsten Positionen vielleicht? Beitz untersteht ja dem Oberkommando des Heeres (OKH). "Darauf", so Beitz, "berief ich mich immer, das machte Eindruck bei denen. Sonst wären die Rettungsaktionen in Boryslaw gar nicht möglich gewesen." Beitz trägt stets ein Telegramm aus dem OKH bei sich, das sämtliche Behörden in Boryslaw auffordert, "die für die Aufrechterhaltung der Erdölproduktion erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen". Als ein hoher SS-Offizier aus Lemberg das einmal liest, gibt er mit den Worten nach: "Aha, so ist die Sache." Ohne die jüdischen Rüstungsarbeiter aus dem Werk - oder die, die er als solche ausgibt - sei die Treibstoffproduktion in Gefahr, betont Beitz und erweckt den Eindruck, als sei sein Eingreifen direkt mit dem OKH abgesprochen.
Das ist nicht der Fall. Gewiss, im deutschen Besatzungsgebiet, gerade in Polen, gibt es einen natürlichen Widerspruch zwischen den Interessen der Rüstungsproduktion und den Massenmorden des Vernichtungsapparates. Aber nur sehr wenige Manager der Kriegswirtschaft lassen es auf massive Konflikte mit der SS ankommen, und noch weniger tun das uneigennützig, aus Menschlichkeit den Opfern gegenüber. Beitz dagegen spielt die Karte der Rüstungsinteressen, sooft er nur kann: "Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, dass ich an höherer Stelle intervenieren würde, wenn sie nicht nachgeben, das hat oft funktioniert - aber nur, weil sie meinen Einfluss überschätzt haben."