Donnerstag, 23. Oktober 2008

Neurobiologie : Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer |

Bei diesem Veröffentlichungssystem im Internet muss man eigentlich die Beiträge immer rückwärts lesen. Also dieser Beitrag folgt auf den Beitrag, den man weiter unten findet und schließt sich an diesen an. Im konkreten Fall ist die Geschichte von Manfred Kyber "Nachruhm" gemeint. Dort wird von einem Forscher erzählt. Anschließend kann man dieses Interview mit einem der bedeutendsten Wissenschaftler der Welt lesen und seine Verbindungslinien ziehen. Hier finden Sie deutlich noch das Mäntelchen einer abstrakt gewordenen christlich, bürgerlichen Ethik angezogen. Manchmal blitzt dann die wahre Denkart unter diesem Mätelchen hervor:
Bei Mönchen kann das "Jesus-Syndrom" auftreten, das ist eine Krankheit... doch lesen Sie selbst:


Neurobiologie : Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer |
"ZEIT ONLINE"


Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer über Erfahrungen bei der Meditation und die Neurobiologie des Religiösen


DIE ZEIT: Professor Singer, Sie haben mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard einen Dialog über Hirnforschung und Meditation publiziert. Neuerdings meditieren Sie auch selbst. Wird der Hirnforscher Singer zum Esoteriker?
Wolf Singer: Nein (lacht). Mein Interesse an der Meditation hat zwei Gründe: Zum einen war ich einfach neugierig; zum anderen hatte ich vor einigen Jahren eine Phase, in der ich beruflich enorm belastet war und viel zu viel am Hals hatte. Da entstand der dringende Wunsch nach einer Auszeit. Also habe ich mich zu einer zehntägigen Zen-Übungsperiode angemeldet, einem »Sesshin« – ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. Tatsächlich waren diese zehn Tage ein hartes Regime: Schweigen, keinerlei äußere Reize, stundenlanges Sitzen vor der Wand, konzentriert auf die Haltung, die Atmung, den gegenwärtigen Moment. Aber es war eindrucksvoll.
ZEIT: »Sesshin« heißt wörtlich »vertraut werden mit dem eigenen Geist«. Was hat diese Erfahrung bei Ihnen bewirkt?
Singer: Ich hatte es hier am Institut niemand erzählt. Aber Mitarbeiter haben mich später bei der Weihnachtsfeier gefragt, wo ich denn den Sommer verbracht hätte. Ich sei so anders gewesen, so ruhig. Ich habe auch selbst bemerkt, dass nach dem Sesshin manches anders war. Plötzlich fuhr ich auf der rechten Spur der Autobahn, brauchte kein Radio und war eigentlich ganz glücklich mit mir. Und im Institut habe ich versucht, dieses pathologische Tasksharing, bei dem man fünf Dinge gleichzeitig tut, zu durchbrechen. Das hat aber nicht lange angehalten.
ZEIT: Was passiert während der Meditation neurobiologisch im Gehirn?

Singer: Bislang gibt es leider wenig aussagekräftige Studien darüber. Aber es ist klar, dass man in der Meditation einen mentalen Zustand erreicht, der sich von demjenigen im Alltag deutlich unterscheidet. Bei mir hat sich zum Beispiel einmal die sogenannte okulare Rivalität verändert, der Wechselrhythmus zwischen beiden Augen. Normalerweise läuft der im Sekundentakt, mal schaut man mit dem einen, mal mit dem anderen Auge, ohne dass einem dies bewusst wäre. Doch in der Meditation veränderte sich mein Gesichtsfeld, plötzlich fehlte die eine Blickrichtung, dann die andere. Der Wechselrhythmus hatte sich so extrem verlangsamt, dass ich ihn wahrnehmen konnte.
ZEIT: Was hat der Neuroforscher Singer aus den Erfahrungen des Meditierenden Singer über das Gehirn gelernt?
Singer: Man kann viel darüber lernen, wie das Gesamtsystem im Grundzustand arbeitet. Man erlebt, was passiert, wenn einen nichts zwingt zu reagieren, sondern wenn sich einfach entfalten kann, was in diesem System alles steckt. In diesem Default-Zustand stellt sich ein Gefühl des »In-der-Welt-Seins« ein. Diese Erfahrung entspricht mit Sicherheit getreuer der Persönlichkeit, die man ist, als das, was man erlebt, wenn man ständig von Tagesereignissen getrieben wird.
ZEIT: Haben Sie sich auch schon früher für religiöse Praktiken interessiert?
Singer: Ich habe mal eine Zeit bei den Eremitenmönchen auf dem Berg Athos zugebracht. In der Fastenzeit vor Ostern haben sich die Mönche alle zwei Stunden aufwecken lassen und gemeinsam gesungen, was mit starker Hyperventilation einherging. Schließlich berichteten sie, dass sie ein großes Licht sahen, Stimmen hörten und in Kontakt kamen mit der Welt der Gottheit. Solche Halluzinationen sind das Ergebnis von Schlafentzug und Hyperventilation. Auch das Jesus-Syndrom kann dann auftreten.
ZEIT: Das Jesus-Syndrom?
Singer: Es ist ein Krankheitsbild, bei dem im temporalen Bereich des Gehirns Epilepsien auftreten. Das führt nicht zu großen Anfällen, sie sind von außen kaum zu sehen, aber man bemerkt sie, wenn man die Hirnströme misst. Die Patienten berichten dabei häufig von einem wunderbaren Gefühl, das sich in ihnen ausbreite: Plötzlich stimme alles mit allem überein. Sie beschreiben dieses Gefühl so, wie Religionsstifter die Erleuchtung beschreiben. Der Hirnforscher aber weiß: Da krampft ein Stück Gehirn, das normalerweise als eine Art innerer Zensor fungiert. Es überprüft, ob Hirnzustände kohärent sind. Wenn sich dieses Areal selbstständig macht, entsteht eben genau dieses versöhnliche Gefühl.
ZEIT: Heißt das: Jedes Erleben eines solchen Einsseins, der Versöhnung, ist krankhaft?
Singer: Nein, überhaupt nicht. Man kann ja denselben Zustand auch ganz real herstellen, indem man zum Beispiel Konflikte wirklich beseitigt. Und das, vermute ich, kann man durch solche mentalen Praktiken durchaus fördern.
ZEIT: Wie vertragen sich Ihre Meditationserlebnisse mit Ihrer eigenen christlichen Religion?
Singer: Für mich hat diese Art der Meditation überhaupt keine religiöse Konnotation. Ich weiß, dass man sie benutzen kann, um Erfahrungen zu machen, die man gern einer metaphysischen Dimension zuschreibt. Meister Eckhart hat ja als christlicher Mystiker einst Praktiken zur Erfassung des Transzendentalen vorgeschlagen, die der buddhistischen Meditation ganz nahe sind.
Zeit: Sind Sie Christ, Buddhist oder Atheist?
Singer: Ich bin zwar tatsächlich in manchen intuitiven Auffassungen, etwa darüber, wie die Welt strukturiert ist, gewissen Interpretationen des Buddhismus nahe. Allerdings würde ich mich nicht als Buddhist bezeichnen. Denn ich bin natürlich als integriertes Mitglied dieser abendländischen Gesellschaft massiv geprägt von christlichen Glaubens- und Wertevorstellungen.
ZEIT: Glauben Sie an einen persönlichen Gott?
Singer: Als Naturwissenschaftler kann ich die konkreten Ausformungen dieses Glaubenssystems oft nicht nachvollziehen. Zwar halte ich es für möglich, dass ich etwa durch das Beten eine Selffulfilling Prophecy in Gang setze und mich in einen Zustand bringe, in dem ich das Gewünschte tatsächlich irgendwann erreiche. Aber ich habe erhebliche Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass eine wie auch immer geartete, für mich unsichtbare Gottheit alles durchdringt, das Geschehen auf der Erde steuert und sich auch noch um mich persönlich kümmert.
ZEIT: Also sind Sie Atheist?
Singer: Nein, auch nicht. Denn ich weiß natürlich, dass es jenseits des Begreifbaren noch Dimensionen gibt, für die ich keinen Namen habe.
ZEIT: Für einen nüchternen Kopf wie Sie muss es doch irritierend sein, dass sich bis heute religiöse Glaubensüberzeugungen halten, die dem wissenschaftlichen Denken zutiefst zuwiderlaufen. Wie erklären Sie sich das?
Singer: Wir haben unsere Religionssysteme alle erfunden. Dafür sprechen schon die kulturspezifischen Ausprägungen. Wir sind aufgrund des Soseins unseres Gehirns darauf festgelegt, Ursachen für Phänomene zu suchen. Und da es viele Wirkungen in der Welt gibt, deren Ursachen wir nicht ergründen können, liegt es nahe, sie einem höheren Wesen zuzuschreiben. Das erlaubt eine weitere hochwirksame Projektion: Denn nun kann man Verhaltensweisen, die sich in der Erfahrung als sinnvoll herausgestellt haben (nicht zu töten, zu lügen, zu stehlen), als Verordnung dieser höheren Instanz deklarieren. Dadurch entzieht man sie der menschlichen Verfügbarkeit – und das ist ein sehr effizientes Mittel, um Gruppen auf einen gleichen Kodex einzuschwören. Das hat sich offenbar im Laufe der kulturellen Evolution enorm bewährt.
ZEIT: Die religiösen Gebote sind für Sie so etwas wie kollektive Erfahrung?
Singer: Ja, und zwar über die Generationen hinweg. Das christliche Gebot zum Beispiel, die andere Wange hinzuhalten: Das Individuum mag von solchen Verhaltensweisen nicht profitieren; doch die Gesellschaft tut es im Laufe ihrer Geschichte sehr wohl. Das kann durchaus nach dem darwinistischen Prinzip geschehen sein. Mag sein, dass gerade die Gruppen überlebten, die altruistische Verhaltensnormen so kodiert haben. Denn eine religiöse Begründung ist eine schnelle methodische Abkürzung. Darüber muss man nicht lange diskutieren, das wird so gemacht, weil es in der Bibel steht. Natürlich hat dieses Prinzip auch seine Schattenseiten. Was im Namen der Religion alles an Schrecklichem geschah – das wird dann genauso wenig hinterfragt.
ZEIT: Kann man sich eine aufgeklärte Religion vorstellen, ohne Intoleranz und Fanatismus?
Singer: Die Frage ist, ob man moralische Werte nicht auch anders verankern kann als religiös. Ich würde denken ja. Unsere Rechtssysteme tun das ja schon. Man müsste, glaube ich, auch bereit sein, zuzugeben, dass man nicht durch schieres Nachdenken jede Lebenssituation im moralischen Sinne entscheiden kann. Und sicher spielt das Wort Demut eine große Rolle. Vielleicht kann man durch mentale Praktiken wie die Meditation Menschen dazu bringen, Einsichten zu gewinnen, die es ihnen erlauben, über den schnöden rationalen Egoismus hinauszusehen.
ZEIT: In der Meditation geht es für Sie also nicht um verzückte Erleuchtung, sondern eher darum, sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist?
Singer: Viel zu viele Leute tun nur so, als sei in ihrem Leben alles in Ordnung. Auf diese Weise ernährt sich ein System, das jenem gleicht, das die Hochglanzpostillen verbreiten. Würde man seine Fehler öfter offenlegen, käme vielleicht mehr Demut in die Welt und mehr Verständnis; auch mehr Toleranz und Dialogbereitschaft. Es ist ja wahnsinnig anstrengend, diese Potemkinschen Dörfer aufrecht zu erhalten.
ZEIT: Deshalb haben auch Religionsstifter immer wieder die Heuchelei ihrer Zeit angeprangert. Doch oft sind aus diesen Impulsen ihrerseits religiöse Systeme entstanden, die einen gewaltigen sozialen Druck aufbauten.
Singer: Rückhaltlos ehrlich zu sein, mit sich selbst und den anderen, ist eben schwer. Ich vermute, diese Mechanismen, von denen Sie sprechen, sind zutiefst menschlich. Ein ideales System, mit dem man allen Schwierigkeiten aus dem Weg geht, gibt es nicht.
ZEIT: Ist vielleicht auch das eine tiefe religiöse Erkenntnis: zu merken, dass es den idealen Pfad zum Heil nicht gibt?
Singer: Ja. Und dennoch nicht zu resignieren – das ist das Kunststück.
Das Gespräch führte Ulrich Schnabel. Zudem ist es Teil des Buches "Die Vermessung des Glaubens" (s.u.)

Zur Person:

Wolf Singer
Wolf Singer, 65, ist einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands und Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Vergangenes Wochenende sollte Singer in Berlin mit dem Dalai Lama diskutieren – doch der musste krankheitsbedingt absagen.Als Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung will Singer einen aufgeklärten Humanismus fördern. Obwohl der Forscher Religiosität mithilfe der Evolutions- und Neurobiologie erklärt und die Willensfreiheit anzweifelt, hält er religiöse Riten für nützlich.