Sonntag, 10. Mai 2009

Religion oder Ethik - eine Anekdote

Quelle:
http://www.welt.de/Pro-Reli-im-Jahre-1912


"Eine gute Woche nach der Abstimmung über Pro Reli haben sich die Wogen in Berlin ein wenig geglättet. Ich muss zugeben, dass ich die Emotionalität des Themas unterschätzt habe. Vielleicht liegt das daran, dass man in meiner Familie seit einigen Generationen ein entspanntes Verhältnis zur Religion pflegt. Mütterlicherseits stamme ich zwar von einem anglikanischen Missionar ab, der in Ceylon elendiglich an einem Fieber starb. Doch meine Mutter hielt mehr von Horoskopen als von der Kirche. Meine Großeltern väterlicherseits waren Berliner "Trotzjuden". Das heißt, sie glaubten nicht an den ganzen Klumpatsch, feierten aber die jüdischen Feste neben den christlichen und blieben Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Sie hätten es als Verrat empfunden, ihre Herkunft, auf die sie einen gewissen Stolz hegten, durch Konversion verleugnen zu wollen.

Als nun mein Onkel Ludwig am Gymnasium in Lichterfelde eingeschult werden sollte, baten die Großeltern, so viel Trotz musste sein, um Dispens vom evangelischen Religionsunterricht. Der Schuldirektor hielt nichts davon: "Aber Herr Posener! Da werden keine alten Märchen erzählt. Ich bitte Sie! Das ist doch nur eine Art allgemeiner Ethikunterricht." (Wir schreiben das Jahr des Herrn 1912.)

Ludwig besuchte also den Religionsunterricht. Die Jüdische Gemeinde bekam Wind davon, war nicht amüsiert und schickte einen Rabbi vorbei, der meinen Großvater zur Rede stellte. Von der Sache mit dem Ethikunterricht war der Rabbi nicht überzeugt: "Soso. Dürfte ich den Knaben sprechen?" Ludwig wurde geholt, und der Rabbi fragte: "Mein Sohn, was hast du im Religionsunterricht gelernt?" Begeistert antwortete der Zehnjährige: "Wir haben gelernt, wie unser Herr Jesus Christus zum Lahmen sagte: Nimm dein Bett und wandele! Und er nahm sein Bett und wandelte!" Damit war es mit dem Ethikunterricht vorbei.

Die Gemeinde schickte einen jungen Mann in die posenersche Villa, der den drei Söhnen der Familie die Thora beibringen sollte. Gleich in der ersten Stunde erklärte er: "Die Geschichten des Alten Testaments sind abergläubischer Unsinn und blutrünstig obendrein. Ich bringe euch lieber etwas Wertvolles bei. Könnt ihr Schach spielen?"

Die Moral von der Geschichte? Keine Ahnung. Vielleicht die, dass man in Berlin die Gretchenfrage schon immer etwas anders beantwortete. Auch dafür liebe ich diese Stadt.