Produktivität und Empfänglichkeit in den dialogischen Prozessen
Auszug aus Karl -Martin Dietz, „Produktivität und Empfänglichkeit“, S.118 f
....Wenn jemand einen Gedanken äußert, frage ich mich nicht als erstes, was ich davon halte und ob ich mich damit identifizieren kann, sondern ob ich ihn überhaupt verstehe und was der Gedanke enthält. Verstehe ich nur, was der andere sagt, oder auch was er meint ? Welche Voraussetzungen und Konsequenzen hat der geäußerte Gedanke? Wie fügt er sich in einen größeren Zusammenhang ein? Finde ich selbst einen Zugang zu dem Gedanken (wozu ich meine geistige Produktivität bemühen muss) oder bleibt er für mich formal? Was kann ich tun, um einen eigenen Zugang zu finden? Welche Verständnisleistungen (nicht: Meinungsäußerungen) müssen erbracht werden?
Der Empfindung eines anderen Menschen gegenüber frage ich nicht in erster Linie, wie weit sie zu meinen eigenen Einstellungen, Erfahrungen, Gefühlen usw. passt, sondern ich versuche, sie vom anderen Menschen her zu verstehen: Wie ist seine Äußerung gemeint und worauf geht sie hinaus? Ich nehme sie nicht zum Anlass, mich in mein eigenes Empfindungsleben einzuspinnen. Indem ich mich für die Empfindung des anderen interessiere, befreie ich mich zugleich aus meinen eigenen emotionalen Verstrickungen.
Macht jemand einen bestimmten Handlungsvorschlag, dann versuche ich, bevor ich innerlich oder äußerlich dazu Stellung nehme, das dahinter stehende Motiv zu verstehen. Ich versuche weiter, die Konsequenzen zu überdenken, und frage mich schließlich, was mir an dem Vorschlag des anderen einleuchtet und was nicht. Ich frage mich aber vielleicht auch, inwieweit sich der andere selbst mit seinem Vorschlag identifiziert. Manchmal werden ja Vorschläge auch eingebracht, um zu provozieren oder weil jemand zu nervös war, um zu schweigen. Beides muss man bemerken. Letzten Endes geht es nicht nur darum, ob der Vorschlag sachlich passend und durchdacht, sondern auch darum, ob er willensgetragen ist. Es gibt hervorragende Vorschläge, mit denen sich aber keiner der Beteiligten wirklich identifiziert: dann sollte man sie nicht durchführen. Bevor etwas gemeinschaftlich getan wird, muss nicht nur nach Gedanken und Gefühlen, sondern auch nach dem Willenseinsatz gefragt werden. Dabei muss es gar nicht immer derjenige sein, der den Vorschlag eingebracht hat, der sich hinterher damit existenziell verbindet. Hier kann es Arbeitsteilung und Wechselseitigkeit geben. Auch das ist eine Frucht von Produktivität und Empfänglichkeit. ....