Freitag, 29. Juli 2011

Am Wasserfall (Les Gorges de la Poëta Raisse)

Schäumend stürzt der Bach über die Felsenkante, tosend brodelt es unten im ausgewaschenen Becken und schon strudelt er weiter. Gegen den Sturzfall erhebt sich ein sprühendes Wesen voller Freude leicht in die Höhe, weit über die Wasser empor. Es greift hinab in die Fluten, die dem Tal entgegen eilen, und nimmt etwas leuchtend Goldfischartiges heraus und wirft es gegen den Himmel. Dort breitet es sich wie mit Flügeln aus und fliegt zur Sonnenmutter hinauf. Die nimmt es dankbar lächelnd in ihre warmen Arme. 


Das Wasserfallwesen schäumt über vor Freude und Begeisterung, es jauchzt und jubelt. Und immer wieder mit beiden Händen greift es hinab in die Fluten und wirft zur Sonne dieses Goldglänzende in die Höhe: „Hier, gute Sonnenmutter, nimm dies Gold, das aus dem Menschental zu mir herauf schwimmt in deine liebenden Arme. Es nährt dich. Dann kannst du frisch mit neuer Kraft ins Menschental hinein leuchten, den Menschen Licht und Wärme spendend.“



Doch nicht nur Goldfischartiges strömte den Sturzbach herauf in die Bergeshöhe dem Wasserfall zu. Da waren auch Dunkelfischhaftes oder Schlangen- und Froschformen. Danach griff das Wasserfallwesen nicht. Es öffneten sich die Kalkfelsen-Mäuler und verschlangen sie. 


Aus feinen Kristallen war der Kalkfelsen gewoben, klar und hart und fest. Doch je mehr er von diesem Dunklen verschlang, desto mehr verloren die Kristallstrukturen ihren Glanz. Die Kristalle wurden mürbe und bröselig. Der Fels verlor an Macht und Größe. Er rief dem Wasserfallwesen zu: „O, gib mir doch etwas von dem glänzenden Gold, damit ich nicht ganz vergehen muss.“

„Es ist zu wenig davon da, aus dem Tal steigt immer weniger zu mir empor. Es reicht kaum aus, um die Sonnenmutter zu ernähren. Kann ich sie nicht mehr ausreichend ernähren, wird sie immer blasser und dunkler und kann das Menschental nicht mehr ausreichend erleuchten. Die Menschen werden frieren. Die Frostriesen werden das Land erobern.“


Da meinte der Felsen: „Doch wenn ich vergehe, dann wird auch der Fels vergehen, der dich trägt und stützt. Kein Wasserfall kann mehr fröhlich hinab strudeln! Und du wirst dich damit auch auflösen müssen und keiner wird mehr der Sonnenmutter Goldglänzendes in die Höhe senden können.“ 

Den Wanderer, der dieses Zwiegespräch belauschte, ergriff eine dunkle Verzweiflung: „Wie soll dies weitergehen, wird es Rettung und Hilfe geben? Muss die Sonne verblassen und der Fels vergehen?“





Da fühlte er in sein Herz hinein; und er spürte sein Blut in sich mächtig brausen und fröhlich strudeln. Und er empfand seiner Knochen starke Tragekraft. Und dieses Gefühl ließ es hell und licht in seiner Seele werden; in ihm begann eine kleine Sonne zu scheinen. Und das Erspüren seiner Knochen empfand er, als würden sie dadurch härter, stärker und klarer. Er erlebte den Felsen in sich, unmürbe und unverwittert. 

Nun wusste er, wo die Rettung lag und wie es weitergehen würde. In ihm selbst würde die neue Erde entstehen.