Sonntag, 28. Dezember 2008

Jahresrückblick 2008

Hier ein Jahresrückblick, der etwas wirklich Symptomatisches herausgearbeitet hat:


Das Jahr, das immer schneller wurde

Von Jan Ross | © DIE ZEIT, 23.12.2008 Nr. 01
Mehr Menschen, mehr Mächte, mehr Möglichkeiten: So viel wie in den vergangenen zwölf Monaten ist selten passiert – ein Versuch, das Jahr 2008 zu verstehen


Das war 2008: Olympia in Peking, Krieg im Kaukasus, Aufstand in Tibet, Weltgipfel in Washington, die Wahl Obamas und der Crash an der Wall Street (von links)



Das Jahr 2008 lässt uns mit einem Schwindelgefühl zurück, mit Hirnsausen, in einem Zustand weltpolitischer Seekrankheit. In den vergangenen zwölf Monaten sind passiert: der Aufstand in Tibet, die Olympischen Spiele der neuen Weltmacht China, der US-Vorwahlkrimi mit globalem Publikum, ein Krieg zwischen Russland und Georgien, die Wahl Obamas, die schwerste internationale Finanzkrise seit den 1930er Jahren, die Terroranschläge von Mumbai als »indisches 9/11«. Kleinere Erschütterungen wie das irische Nein zum EU-Verfassungsvertrag zählt man schon gar nicht mehr mit. Es hat in den vergangenen Jahren massivere, kompaktere historische Augenblicke gegeben als 2008: Der 11. September 2001 oder der Irakkrieg 2003 waren lautere Explosionen im Weltgewölbe. Aber die politisch-emotionale Achterbahnfahrt, das schiere Tempo der Stimmungs- und Schauplatzwechsel zwischen Wall Street und Kaukasus, Crash-Angst und Obamanie war atemberaubend und signalisiert eine neue Geschichtsqualität.

Wahrscheinlich werden wir uns an dieses Trommelfeuer der Geschehnisse gewöhnen müssen. Es war kein Zufall und keine medial erzeugte Illusion. Der Ereignisdruck ist Ausdruck einer Demokratisierung von Weltgeschichte: mehr Menschen, mehr Mächte, mehr Möglichkeiten, sich bemerkbar zu machen, mitzureden, zu stören. Es ist nicht mehr wie früher, wo sich alle Blicke automatisch in eine Richtung wandten, wenn in Washington oder Moskau die Parole ausgegeben wurde: »Jetzt ist Nahostkonflikt!«. Täter, Opfer und Schauplätze haben sich vervielfacht. Wenn die Tibeter mit ihren Kräften am Ende sind, können sofort die Georgier einspringen. Weil eine Finanzkrise begonnen hat, hört nicht etwa der Terrorismus auf, wie die Attentate von Mumbai auf furchtbare Weise klargestellt haben. Die Finanzkrise selbst ist globalisiert und demokratisiert – keine Asien- oder sonstige Regionalkrise wie in den 1990er Jahren, auch keine Exklusivkrise der reichen Amerikaner und Europäer, die China oder Indien in ihrem Aufstieg unberührt lassen würde, sondern eine echte Weltkrise für jedermann.
Die früheren Entwicklungsländer nehmen Platz am Tisch der Macht
Der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat das Phänomen als »globales Erwachen« bezeichnet: Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Menschheit in ihrer ganzen Breite politisch aktiv. Tibet-Freunde, die in San Francisco oder Paris gegen den olympischen Fackellauf protestierten, chinesische Auslandsstudenten im Westen, die umgekehrt für ihre Regierung Partei nahmen und ihren Nationalstolz demonstrierten, schwarze Amerikaner, die mit der Stimme für Barack Obama zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Präsidentenwahl teilgenommen haben – das alles sind Symptome einer universalen Mobilisierung. Selbst im Terrorismus muslimischer Fanatiker steckt eine perverse Form des »globalen Erwachens«, des Kampfes um weltweite Aufmerksamkeit: Würden wir uns denn so viele Gedanken über den Islam machen, wenn es den 11. September 2001 und seine Folgetaten nicht gegeben hätte? Die Attentate von Mumbai haben eben nicht nur Sympathie für die Opfer geweckt, sondern, so verstörend das wirkt, auch erfolgreich das Indienbild verändert: weg vom Wirtschaftswunder und vom Touristenparadies der Werbespots bei CNN, hin zum ungelösten Kaschmirkonflikt und zum Schicksal der muslimischen Minderheit im Land.
Die neue, pluralistische Welt hat 2008 ihr erstes offizielles Forum bekommen, als Embryo einer globalen Ordnung des 21. Jahrhunderts. Die »G20«-Gruppe, die von den Vereinigten Staaten bis Indonesien Industrie- und Schwellenländer zusammenbringt, stellt das Eingeständnis der Reichen und Mächtigen von gestern dar, dass sie die Welt nicht mehr beherrschen können. Ausgerechnet diese bunte, Nord und Süd umfassende Runde, die seit ihrer Gründung 1999 ein Schattendasein geführt hatte, ist zur obersten Instanz in der Debatte über die Finanzkrise geworden, zum Rahmen, in dem Bush, Sarkozy oder Brown auftraten und ihre Rettungsvorschläge präsentierten. Diese Krise kann die alte Weltelite nicht mehr allein bewältigen – und das hat Folgen: Die früheren Entwicklungsländer werden sich ihren frisch erworbenen Platz am Tisch der Großen nicht nehmen lassen, wenn es demnächst um Klima, Handel oder Armutsbekämpfung geht. Wie provisorisch und unfertig auch immer, ist die G20 doch der Vorbote von etwas Neuem, im Unterschied zu den bisweilen zombiehaft weiterlebenden Gremien und Organen aus der Zeit vor 1989, die (wie die Nato) überholt oder (wie die Vereinten Nationen) schwergängig wirken. In einer Ad-hoc-Improvisation, getrieben durch die Angst vor dem großen Crash, hat die kollektive politische Fantasie mit der Entdeckung der G20 einen kleinen schöpferischen Geniestreich getan.

2008 war das Jahr, in dem wir uns an die »multipolare Welt« endgültig gewöhnt haben – die Vielfalt von Machtzentren, die sich seit dem Irakkrieg anstelle der globalen Alleinherrschaft der Vereinigten Staaten herausgebildet hat, die Emanzipation des Südens und Ostens sind selbstverständlich geworden. Mit der Finanzkrise hat die Dominanz der USA nach dem Scheitern von Bushs Weltmachtpolitik einen zweiten Schlag erhalten – jetzt kann von einem amerikanischen Zeitalter wirklich nicht mehr die Rede sein. Zugleich ist aber der Honeymoon der Aufsteigermächte vorbei. Die Karriere des Nicht-Westens war bisher ein Boom-Phänomen: fantastische Zuwachsraten vor allem in Asien. Damit hat es für den Moment ein Ende. Dass die Wirtschaft in China, Indien oder Russland sich von den USA und Europa »abkoppeln« könne, wie schon prophezeit worden war, hat sich als Legende erwiesen. Die Wachstumsprognosen mussten scharf nach unten korrigiert werden. Die russische Staatspropaganda hat die Finanzkrise zunächst als amerikanische Sünde und amerikanisches Problem dargestellt; bald jedoch wurde die Moskauer Börse geschlossen, und die Oligarchen erlitten Milliardeneinbußen, die sie an den Rand des Konkurses brachten. Hinter dem auftrumpfenden Russland des Georgienfeldzugs ist eine höchst fragile Macht sichtbar geworden.

Vom Westen gefürchtete Öl- und Schurkenländer wie Iran und Venezuela haben mit dem Einbruch der Energiepreise ihre Staatseinnahmen schwinden sehen. Die Anschläge von Mumbai haben bloßgelegt, dass die viel gerühmte Atom- und Softwaremacht Indien weiterhin den Sicherheitsapparat eines Drittweltstaats besitzt. Das Emirat Dubai mit seinem Milliarden verpulvernden Märchenluxus muss vom solideren Nachbarn Abu Dhabi gestützt und heraus gekauft werden. Die neuen Mächte stehen nicht etwa stabiler da als die alten, etablierten, westlichen – im Gegenteil. Auf Dauer ist eine Machtverlagerung nach Osten und Süden unvermeidlich, aber eine glatte Karriere der Aufsteiger ist sie nicht.

Ein bei aller bürokratischen Farblosigkeit hochdramatischer Schlüsselsatz des ausklingenden Jahres fiel in einer Rede des chinesischen Präsidenten Hu Jintao vor dem Politbüro der KP Chinas: Ob die Partei den Druck der Krise in eine Motivation verwandeln und aus den Herausforderungen Chancen machen könne, werde über ihre Fähigkeit entscheiden, das Land zu regieren. Dass das chinesische Regime in Angst vor der Unruhe des Volkes lebt, dass es wirtschaftspolitische Leistungen zu seiner Legitimation braucht, ist eine Sache – aber dass der Staats- und Parteichef den gefährlichen Zusammenhang selbst herstellt und öffentlich an der Regierungsfähigkeit der eigenen Partei zweifelt, ist ein Alarmsignal. Man muss es mit dem Triumph der Olympischen Spiele zusammennehmen, um die ganze Spannung zu ermessen, unter der die Weltmacht, die es noch nicht ist, gegenwärtig steht.

In den letzten Jahren war die These Mode geworden, dass moderne Diktaturen wie die chinesische für die Zukunft besser gerüstet sein könnten als die müde gewordenen liberalen Demokratien des Westens. Putins Russland, das im August im Georgienkrieg eine Machtdemonstration abgelegt hat, galt schon als Kandidat für eine neue, gefährliche Systemkonkurrenz, einen »neuen Kalten Krieg«. Jetzt, am Ende des Jahres, nehmen sich die Autokratien, die im Abschwung letztlich doch vor den eigenen Bürgern zittern müssen, weniger eindrucksvoll aus. Statt einen neuen Kalten Krieg vom Zaun zu brechen, versucht die Welt gemeinsames Krisenmanagement. Und die als dekadent abgeschriebene Demokratie hat mit der global bejubelten Wahl Barack Obamas ihren stärksten Vitalitäts- und Attraktivitätsbeweis seit 1989 geliefert: Das ganze Pathos der Freiheit, das die Welt seit Bush schon nicht mehr in den Mund nehmen mochte, klang auf einmal wieder frisch und echt wie am ersten Tag. Das ist, neben dem »globalen Erwachen« und der Etablierung der neuen Mächte, die zweite, gegenläufige Kernerfahrung des Jahres 2008: die Anfälligkeit der Newcomer und die Erneuerungsfähigkeit des westlichen Modells.

Das Jahr 2008 endet unvollendet: Die Wirtschaftskrise, die eines seiner zentralen Ereignisse ist, hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, geschweige denn ihren Abschluss. Die Menschheit geht mit dem unbehaglichen Gefühl einer Gnadenfrist ins nächste Jahr, mit der Ahnung, dass eine Kugel schon abgeschossen wurde, die ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Sicher ist, dass die Krise zum Stresstest für alle Länder und Gesellschaften wird – sie trifft sie jeweils an ihren empfindlichsten, prekärsten Stellen, sie treibt ihre typischen Widersprüche hervor. Für die Vereinigten Staaten bedeutet sie einen potenziellen Bruch in ihrer Liebesgeschichte mit dem Kapitalismus, sie wirft die Frage auf, ob nicht eine Umwertung fällig ist im Verhältnis von Staat und Markt, von Individuum und Gemeinschaft. Was würde es bedeuten, wenn die Amerikaner nicht mehr glauben könnten, dass der Einzelne seines Glückes Schmied ist und jeder die faire Chance zu Aufstieg und Erfolg hat? Für die Europäer ist das Gefahrenszenario das griechische: ein in privilegierte Insider und unversorgte Außenseiter gespaltener Wohlfahrtsstaat, der die an ihn gerichteten Ansprüche nicht mehr erfüllen kann, für Reformen keine Mehrheit findet und sich die Jungen, die Beschäftigungslosen, die Einwanderer zu Feinden macht. In Amerika wie in Europa arbeitet ein mächtiges Unruhepotenzial und Veränderungsbedürfnis, womöglich eine revolutionäre Energie. In den USA wird schon ein erster Antwort- und Lösungsversuch unternommen: »Change« mit Barack Obama als Neubesetzung von Franklin Roosevelt, der in den 1930er Jahren mit dem New Deal den amerikanischen Gesellschaftsvertrag neu schrieb, den Staatseinfluss ausweitete und den Privatinteressen Zügel anlegte. Den europäischen Obama gibt es nicht.
Barack Obama ist der Mann des Jahres 2008. Wie er am Ende des Jahres 2009 dastehen wird, ist vollkommen offen. Aber die historische Möglichkeit, die er verkörpert, lässt sich bezeichnen, und sie reicht über die Wiederherstellung des amerikanischen Ansehens und die Symbolik eines Schwarzen im mächtigsten Amt der Welt weit hinaus. Obama, der Coole und Multikulturelle, steht für so etwas wie die Hoffnung auf ein ziviles Weltgespräch, auf eine Menschheit, die sich globale Tagesordnungen zu setzen vermag, die zusammen Überlebensthemen identifizieren und sich auf manierliche Weise darüber auseinandersetzen kann.

Die vergangenen Jahre, die Jahre von George W. Bush und des »Kriegs gegen den Terror«, sind eine Zeit der Spaltung und Polarisierung gewesen, der dauernd erhöhten politischen und rhetorischen Temperatur – heiße Jahre, deren Inbegriff nicht zufällig der Krieg gewesen ist. Obama verspricht Abkühlung, und er verspricht Gemeinsamkeit – nicht im Sinne aufgehobener Interessengegensätze, das wäre eine absurde Erwartung, sondern als Habitus und Impuls: Die primäre Geste soll nicht mehr die geballte Faust sein, sondern die geöffnete Hand. Es gibt eine globale Sehnsucht nach Kooperation, wie ausgehungert ergreift die Welt die Chance zu Tagungen und Gipfelkonferenzen, über Klima, Finanzmarktregulierung oder Investitionsprogramme, zerstreitet sich dabei und kann doch vom Miteinanderreden nicht lassen. Es hat eine andere Phase begonnen als die Bush-Ära mit ihren starren, harten Gegensätzen von Freund und Feind, Licht und Dunkel, Gut und Böse, eine Zeit gewiss nicht geringerer Gefahr, aber größerer Flexibilität, und in Barack Obama hat sie für den Augenblick ihren smarten Helden gefunden.
Mit derselben Herkunft kann man Terrorist und US-Präsident werden
Der Schriftsteller John Updike hat vor einigen Jahren einen Roman veröffentlicht, der die Geschichte eines zum Terroristen gewordenen jungen Mannes erzählt. Die Hauptfigur ist der Sohn einer Amerikanerin und eines Austauschstudenten aus einem muslimischen Land, der seine Familie bald im Stich gelassen hat und in seine Heimat zurückgekehrt ist. Kommt uns das bekannt vor? 2008 ist das Jahr gewesen, in dem man in dieser Geschichte auf einmal eine andere, die Welt verblüffende erkennen konnte: Die Herkunft von Updikes Ahmad Mulloy deckt sich exakt mit der von Barack Obama. Es ist ein und dieselbe Geschichte, mit der einer in der Dichtung zum Terroristen und in der Wirklichkeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten werden kann. Das ist die abgründige Unsicherheit, mit der man sich vom ablaufenden Jahr abwendet – und die Hoffnung.


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ZEIT ONLINE 52/2008: Krisen, Kriege und ein bisschen Hoffnung