Dieser Artikel wurde im Jahre 2004 verfasst - fand aber kein Forum der Veröffentlichung
Seit einiger Zeit ist wieder einmal ein Geisteskampf aufgeflammt, der seit dem Siegeszug des Materialismus immer wieder die Wissenschaftler entzweit hat. Es geht um die Frage des Zusammenhangs zwischen unserem menschlichen Bewusstsein und dem physischen Gehirn. Die grandiosen heutigen Möglichkeiten in die kleinsten, ja allerkleinsten, molekularen Abläufe im Gehirn mit technischen Apparaten hineinzuschauen, haben die Debatte um den Ursprung des menschlichen Bewusstseins wieder heftig aufleben lassen. Man hat ja inzwischen herausgefunden, dass es zu jeder Denkbetätigung, ja auch zu bestimmten Charakteranlagen etwas Entsprechendes in den biologischen Vorgängen und in den Strukturen des Gehirns gibt. Und eine Gruppe von Wissenschaftlern geht nach wie vor davon aus, dass alle Bewusstseinsvorgänge ihren Ursprung im physischen Gehirn haben. Ihre modernen Forschungen scheinen das mit erdrückendem Gewicht zu beweisen. Dagegen haben die Verfechter der menschlichen Freiheit bzw. der Unabhängigkeit des Bewusstseins von den Gehirnstrukturen einen schweren Stand.
Nun erschien mitten in dieser Auseinandersetzung im Frühjahr diesen Jahres in einer überregionalen deutschen Tageszeitung ein außerordentlich bemerkenswerter Leserbrief. Ein Professor schildert darin, dass er einmal in Zusammenhang mit der oben erwähnten Debatte von eben dieser Tageszeitung des Auftrag bekommen hatte, einen Artikel über das menschliche Bewusstsein zu schreiben. Das Thema sollte folgendermaßen lauten: „Kann der Geist erkranken?“* Er erzählt nun in diesem Leserbrief, wie er sich an die Arbeit machen wollte, aber der Artikel gelang nicht. So sehr er sein Gehirn auch zermarterte, es wollten nicht die rechten Worte in die Feder fließen. Als er schließlich verzweifelt seine Bemühungen aufgab und zum Telefonhörer griff, um der Zeitungs-Redaktion mitzuteilen, dass er nicht in der Lage sei, diesen Artikel zu schreiben, „ ...da geschah das Unglaubliche: Ich ‚sah’ mit einem ‚inneren Auge’ den ganzen Beitrag vor mir. Er war fertig, alles war ‚geschrieben’, ich brauchte es nur noch ‚abzuschreiben’. Aber sofort! Ich schrieb das Ganze in einem Zug ohne nachzudenken. Und war überrascht! Das war etwas anderes, als ich mir ausgedacht hatte. Es war gut, doch ‚ich’ hatte das nicht geschrieben, es war mir zugefallen – von woher?
Also während dieser Mensch sich mit seinem Denken, seinem wachen, bewussten, intellektuellen Denken bemüht, einen Artikel über den „Geist“ zu schreiben, scheitert er mit eben diesem Denken, er kommt nicht weiter. Als er dann aufgibt, kommt es zu einem Durchbruch: Er sieht den ganzen Inhalt vor sich oder in sich. Natürlich stammt dieser Inhalt von einer anderen Ebene als derjenigen, auf der er sich vorher mit seinem alltäglichen Denken bewegt hat. Aber dennoch haben beide Ebenen nichts mit der äußeren sinnlichen Welt zu tun, sondern haben rein innerlichen, geistigen Charakter. Die Schilderungen dieses Leserbriefschreibers veranschaulichen auf sehr exakte Weise bestimmte geistige Phänomene in unserem Bewusstsein.
Wir müssen in uns zwei Bewusstseinsebenen deutlich unterscheiden. Auf der einen Ebene, nennen wir sie die untere, sind wir mit unserem ich-geführten Denken tätig, von der anderen, nennen wir sie die höhere, kommt uns etwas zu, von dem wir das Gefühl haben können, dass wir es nicht selbst geschaffen haben. Auf der unteren Ebene empfinden wir uns als aktiv Schaffende, auf der höheren Ebene ist unser Ich wie passiv empfangend. Aber auf beiden Ebenen geht es um das gleiche Thema. Auf der unteren Ebene findet meine bewusste Bemühung um einen Inhalt statt, von der höheren Ebene kommt die Antwort zum gleichen Thema, nur eben anders als „ich“ sie erwartet hatte. Gleichwohl kann man erleben, dass man die geschenkte Antwort mit seinem ganzen wachen Bewusstsein durchdringen und denkerisch nachvollziehen kann. Die Antwort ist auf keinen Fall absonderlich, unlogisch oder gewissermaßen vom Inhalt her „mystisch“. Sie ist allerdings gewöhnlich nicht so, wie man bisher seine Gedanken üblicherweise formte, sondern es lebt meist etwas Neues in einer solchen eingegebenen Antwort.
Um zu einem vertieften Verständnis dieser beiden Ebenen zu gelangen, sei es gestattet einen bildhaften Vergleich anzuführen. Bei unserer denkerischen Betätigung ist es sinnvoll, wie ein Gärtner vorzugehen. Dieser sät zunächst, dann gießt er die Saat, düngt und pflegt sie sorgfältig. Schließlich erntet er die Früchte. Aber er kann die Früchte nicht selbst hervorbringen. Sie werden ihm gewissermaßen durch die Naturkräfte geschenkt. Seine eigene pflegende, helfende Tätigkeit ist etwas ganz anderes als das, was in der Pflanze geschieht. Die eine Ebene, die untere, ist also die Arbeit des Gärtners, gleichwohl ist sein Bestreben und Ziel, Früchte zu bekommen. Die andere, die höhere Ebene ist der Lebensprozess der Pflanze, der mit den ganzen Natur- und Himmelskräften zusammenhängt und der die Früchte hervorbringen lässt.
Genau so arbeitet unser Bewusstsein: Wir sind zum einen aktiv denkerisch tätig, wir nehmen Informationen auf, wir lassen unsere Gedanken um einen Gegenstand kreisen, wir denken Gedanken, die wir anderswo aufgenommen haben, nach, wir konzentrieren uns, wir machen Gedankenübungen usw. Das entspricht der pflegerischen Tätigkeit des Gärtners. Aber es wäre eine Täuschung, wenn wir denken würden, dass wir so wirklich etwas Neues, Eigenständiges hervorbrächten. Und dieser Täuschung unterliegt gewissermaßen unserer ganze Kultur. Ein Gärtner könnte selbst nur rote Tomaten hervorbringen, wenn er sie aus Ton formte und dann rot anmalte. Dann wären sie aber tot und ungenießbar. Ähnlich verhält es sich mit den allermeisten Produkten der herrschenden Denkkultur, sie haben kein wirkliches Leben in sich und für den sensibel empfindenden Menschen sind sie auch ungenießbar. Eine andere Tatsache, der wir in unserem alltäglichen Leben auch häufig begegnen lässt sich vergleichsweise so ausdrücken: Der Gärtner ginge auf den Markt und kaufte dort, die von anderen produzierten Tomaten; dann hätte er sie aber nicht selbst erzeugt. Auch das entspricht unserem heutigen Geistesleben: Man wiederholt immer in neuen Anordnungen die gleichen Gedanken, die irgendwann einmal irgendjemand geäußert hat und die somit zu dem allgemein anerkannten bürgerlichen Gedankengut gehören.
Nun zur zweiten, höheren Ebene. Dort reift etwas heran, während wir uns auf der unteren Ebene abmühen, was uns dann in einem bestimmten Moment wie durch eine Eingebung zukommt.
Nur dadurch, dass wir häufig sehr ungenau im Beobachten unserer Bewusstseinsvorgänge sind, unterscheiden wir diese beiden Ebenen nicht. Aus einem gewissen Hochmut heraus denken wir, wir würden selbst innerlich geistig alles hervorbringen, indem wir denkerisch tätig sind. Es ist dies der gleiche Irrtum wie der, dem der Gärtner erliegen würde, wenn er meinte, er selbst brächte die Früchte hervor, die er anbaute.
Aber wie die Sonnenkraft erst die Früchte reifen lässt, so bescheint eine höhere Geisteskraft unsere Gedankenkeime. Es braucht dann nur etwas Geduld, Ruhe, Konzentration und auch schließlich eine völlige Zurücknahme des logischen-intellektuellen Denkens, damit die andere Ebene sich äußern kann. Der Schreiber des Leserbriefes empfand es so, als ob er sein „Ich“ aufgeben musste, um die höhere Eingebung zu erhalten: „Erst im Moment der ‚Ich-Aufgabe’ brach das inzwischen ohne mein Zutun von einer unbewussten Instanz Verfasste durch. Mir scheint, dass ‚tiefere’ Schichten des Gehirns mit ‚tieferer’ Einsicht sich gegenüber dem Ich-Bewusstsein durchgesetzt hatten.“ Natürlich kann nicht von einer Aufgabe des „Ichs“ die Rede sein. Das wäre nur richtig, wenn man das wach-bewusste Denken mit dem eigenen Ich gleichsetzen würde. Sinnvoller ist es, das Denken als ein Werkzeug oder eine Betätigungsart des Ichs anzusehen. Denn man erlebt, dass das Ich überall mit dabei ist, entweder aktiv schaffend oder auch passiv empfangend. Dieses Ich beurteilt jeweils auch, die Qualität der eigenen Denkleistung. Das Ich des Autors zeigte sich z.B. in dem Leserbrief unzufrieden mit den Denkergebnissen, es spürte, dass die Ergebnisse nicht dem entsprachen, was es auf einer anderen Ebene erlebte oder ahnte.
Wir kommen hier nun mehr in die Sphäre des Empfindens und Fühlens. Von einer höheren Warte blicken wir, blickt unser Ich, auf unsere Taten und Worte, und wir wissen oder fühlen, ob sie gut waren oder nicht, ob ein Text gelungen ist oder nicht. Nur können wir oft dieses Urteil nicht klar formulieren. Es ist gewissermaßen eine innere Gewissheit für uns, wenn ein gesprochenes Wort, ein geschriebener Text, eine vollbrachte Tat einer anderen Instanz in uns nicht gerecht wird. Zwischen dem Inneren und dem Äußeren bleibt dann eine Diskrepanz, die wir nur ahnen oder fühlen, aber weniger mit logischen Begriffen begründen können. Wenn nun aber etwas aus dieser höheren Sphäre uns direkt zukommt, in das logische Wachbewusstsein eintritt, dann haben wir das Gefühl, dass wir ganz damit identisch sein können.
Auch dieses fühlte der Autor des Leserbriefes und deshalb kommt gegen Ende seines Textes noch eine ganz besondere Wendung. Er ist auf der Suche nach einer Erklärung für das ihm sehr merkwürdig vorkommende Phänomen der unerwarteten Eingebung. Er spürt, dass es im menschlichen Organismus noch ein Organ gibt, das vielleicht eine höhere Funktion erfüllt als das Gehirn, nur dass wir eben nicht mit unserem vollen Bewusstsein mit diesem Organ arbeiten können. Deshalb schreibt er nun: „Hatte mein kreatives ‚Herz’ das Steuer übernommen?“ Der Autor erwähnt das Herz als denjenigen Ort, von dem ihm die Eingebung zugekommen sein könnte. Das ist ein großer Gedanke. Das Herz wäre damit in gewissem Sinne ein höheres „Denk“-Organ als das Gehirn.
Man könnte anders herum auch sagen: Setzen wir bewusst das Herzorgan für unsere innere Bewusstseinsarbeit ein, dann erreichen wir eine ganz andere Ebene. Wenn wir die Denkprodukte unseres Gehirns absinken lassen in unseren Gefühlsbereich, sie mit Herzensliebe durchdringen, mit der Herzens-Begeisterung durchwärmen, gleichsam vom Herzensbereich ausbrüten lassen, dann kann darin unserer höheres Ich in Zusammenhang mit anderen Geistesmächten walten, und wir erhalten diejenigen Gedankeneingebungen, die unsere Welt heute so dringend braucht. Wir erleben so, dass wir nicht mehr nur das schon längst Gedachte, die eigentlich erstorbenen, alten Gedanken wiedergeben, sondern dass wir die neuen, lebendigen, zukünftigen Gedanken aussprechen lernen. Die Debatte über das Gehirn müsste erweitert werden um eine Debatte über den Zusammenhang zwischen unserem Bewusstsein und dem Herz-Organ.
Dieter Centmayer, Braunschweig
*„Ich schrieb mich ab“, Professor Dr. Dieter Dieterich, Blankenheim, FAZ 23.03.04