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Dienstag, 29. Dezember 2015
ÜBER DAS REISEN - Ralph Waldo Emerson - "Essays" (im 19.Jahrhundert)
"Es ist gleichfalls nur Mangel an Selbstbildung, dass der Aberglaube des Reisens, dessen Götzen Italien, England, Ägypten sind, seinen Zauber für alle wohlerzogenen Amerikaner behält. Diejenigen, welche England, Italien oder Griechenland so anziehend und ehrfurchtgebietend für unsere Phantasie machten, bewirkten dies dadurch, dass sie fest an ihrer Scholle klebten, als wäre sie die Achse der Erde. In männlichen Stunden fühlen wir, dass die Pflicht unseren Platz bestimmt. Der Geist ist kein Reisender; der weise Mann bleibt daheim – und wenn das Bedürfnis oder die Pflicht ihn hinausruft und ihn auf die Straße oder in die Fremde führt – er ist dennoch zu Hause, und am Ausdruck seines Antlitzes fühlen die Menschen, dass er als ein Missionär der Sittlichkeit und Weisheit dahinzieht und Städte und Menschen wie ein Souverän, nicht wie ein Bedienter oder Schleichhändler besucht. Ich bin kein pedantischer Gegner der Reisen um die Welt, wenn sie aus Liebe zur Kunst, aus Wissbegier, aus Menschenfreundlichkeit unternommen werden, wenn der Mensch nur erst eine Heimat hat und nicht in der Hoffnung auszieht, Größeres zu finden als er zu Hause gekannt. Wer um sich zu zerstreuen reist, oder um etwas zu finden, was er nicht mitbringt, der flieht vor sich selbst und wird unter den Trümmern des Alten in seiner Jugend alt. In Theben, in Palmyra werden sein Geist und Herz alt und zerfallen wie diese, und er trägt Ruinen zu Ruinen. Reisen ist das Paradies der Narren. Unsere ersten Ausflüge lehren uns, wie gleichgültig die Orte sind. Zu Hause träum' ich, dass in Rom oder Neapel mich die Schönheit berauschen und meine Verstimmung enden wird. Ich packe meine Koffer, nehme von meinen Freunden Abschied und schiffe mich ein – und erwache in Neapel, und an meinem Bette sitzt ernsthaft und wirklich – dasselbe traurige, unnachsichtliche Selbst, vor dem ich geflohen. Ich besuche den Vatikan und die Paläste, ich tue, als wäre ich von Ansichten und Ideen berauscht, aber ich bin nicht berauscht. Mein Riese geht mit mir, wohin ich auch gehe. Aber die Reisewut ist nur ein Symptom einer tieferen Ungesundheit, die unser ganzes geistiges Leben ergriffen hat. Unser Intellekt ist unstet, unser ganzes Erziehungssystem erzeugt Unruhe. Unser Geist ist selbst dann auf Reisen, wenn der Leib daheim bleiben muss.