Sehr nachdenklich kann einen der folgende Bericht aus der FAZ vom 23.September 2010 machen.
Wer sich mit Selbsterkenntnis und mit einer zukunftweisenden Entwicklung beschäftigt, der weiß, dass der Mensch zu seiner Weiterentwicklung etwas „opfern“ muss. Früher opferte er den Göttern; heute ist es mehr ein subtiler, innerseelischer Vorgang, damit der Mensch nicht völlig an diese materielle Welt gekettet bleiben muss.
Zur Befreiung der Individualität von den Zwängen der Welt, muss die Seele etwas, was ihr scheinbar zunächst Genuss, Wohlbefinden, Bequemlichkeit verspricht, aufgeben oder etwas drastischer ausgedrückt: opfern.
Nun wird hier auf ein Buch hingewiesen, wo es gerade Jugendliche, bzw. noch Kinder einer 7.Klasse, sind, die diesen Weg beschreiten wollen. Es geht hier um etwas, was normalerweise wie ein menschlicher Schicksalsschlag im Leben auftritt oder was beim Erwachsenen, der Selbsterziehung betreibt, in gewisser Art seine Bedeutung hat. Das erscheint hier bei den Kindern wie in einem verzerrten Spiegelbild. Aber es ist dennoch bewegend, dass es in der Literatur nun in dieser Form auftaucht:
Mit ihrem Jugendbuch „Nichts“ feiert die Dänin Janne Teller derzeit einen Überraschungserfolg bei Lesern jedes Alters. Die Radikalität der Geschichte begeistert die einen und verstört die anderen.
...Der Roman erzählt von einer dänischen Schulklasse auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, die, provoziert durch einen Mitschüler und dessen existenzialistische Parolen, herausfinden will, was dem Leben Bedeutung verleiht - dem jeweils eigenen Dasein ebenso wie dem großen Ganzen. Und während jener Störenfried namens Pierre Anthon tagaus, tagein auf einem Pflaumenbaum hockt und seine Mitschüler mit halbreifen Früchten und verstörenden Sätzen bewirft, treffen die sich regelmäßig in einem alten Sägewerk und liefern reihum ab, was ihnen wichtig ist und was zu verlieren sie schmerzt: die neuen Sandalen, das schöne Fahrrad, die Rollenspielbücher, die blaugefärbten Zöpfe. Den Goldhamster, den Gebetsteppich, den Kindersarg mit den Überresten des kleinen Bruders. Den rechten Zeigefinger schließlich, womit die Sache nicht mehr vor den Erwachsenen zu verbergen ist.
...Skandalös aber ist der Ernst, mit dem sie das betreiben und dabei eine Schmerzgrenze nach der anderen überschreiten - wenn er nicht wehtut, der Verlust, wie kann das Opfern dann etwas bedeuten - und so beweisen, dass es eben doch Dinge gibt im Leben, auf die es ankommt. Skandalös ist die Eigendynamik, die sich entwickelt, nachdem jeweils die anderen darüber bestimmen, was jeder Einzelne zu opfern hat. Skandalös ist schließlich, wie das Erlebnis, sich auf Geheiß der anderen etwas aus dem Herzen gerissen zu haben, alles Mitleid überdecken kann: Wenn ich gelitten habe, so sagt sich jeder, können es die anderen auch. An Ausstieg ist in dieser Phase der Sinnstiftung nicht mehr zu denken. So wird der Zeigefinger des begabten Gitarrespielers Jan-Johan gnadenlos amputiert, während der schreiende, weinende Junge festgehalten wird und sich von Kopf bis Fuß einnässt. „Alle mussten ihren Teil beitragen“, kommentiert Agnes das: „Wir hatten unseren beigetragen. Jetzt war Jan-Johan an der Reihe. So schlimm war es doch wohl nicht.“ Wer wissen möchte, welchen Weg Fanatiker hinter sich haben, die alles und jeden zu opfern bereit sind, findet in „Nichts“ eine Antwort.
An der Rezeption von „Nichts“ wird sich zeigen, ob wir es ertragen, wenn neugierige Jugendliche mit dem Philosophieren Ernst machen. Und welchen Beitrag wir dazu leisten können, dass die Sache ein anderes Ende nimmt als im Buch.